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SelbsthilfeSchweigen ist für die junge Hellenthalerin Myra Abel keine Option

Lesezeit 6 Minuten
Myra Abel sitzt auf einer Bank, im Hintergrund sieht man Gebäude des Klosters Steinfeld.

Myra Abel, 23 Jahre alt, hat die Selbsthilfegruppe „Kopfkino“ gegründet. Außerdem schreibt sie und bringt gerade in ihrem eigenen Verlag ihren ersten Roman heraus.

Über psychische Erkrankungen zu reden, fällt vielen Betroffenen sehr schwer. Nicht so Myra Abel aus Hellenthal. Für sie ist Schweigen keine Option.

Sie war 17 Jahre alt, als ihre Mutter sie eines Tages fragte, ob sie überhaupt weiterleben wolle. Myra Abel erinnert sich noch gut daran, dass ihr die Antwort schwerfiel, dass sie es schlichtweg nicht wusste. „Heute weiß ich, dass ich gerne hier bin“, sagte sie im Herbst letzten Jahres, als sie im Vorfeld des Films „Expedition Depression“ im Cineplexkino in Euskirchen stand und den Menschen im voll besetzten Saal von ihren Erfahrungen mit psychischer Erkrankung und der Selbsthilfegruppe „Kopfkino“ erzählte.

Seelische Erkrankungen, egal welcher Art, werden noch immer stark tabuisiert. Beispielsweise Depressionen: Laut Gesundheitsatlas Deutschland waren knapp 9,5 Millionen Menschen (Stand 2022) davon betroffen. Und unter den Erkrankungen, die zu einer Arbeitsunfähigkeit führten, nimmt die Diagnose „Depression“ einen Spitzenwert ein. Trotzdem: Darüber reden tun die wenigsten.

Nicht so Myra Abel. „Es ist für mich keine Option, eine psychische Erkrankung zu verheimlichen. So etwas sucht man sich ja nicht aus. Und wenn ich jemandem damit zu viel bin, dann passt es eh nicht“, sagt die junge Hellenthalerin, die mit ihrer Offenheit noch keine schlechten Erfahrungen gemacht hat.

Krankheit und Psychotherapie sind ihre Lehrmeister

Rund um ihr Abitur und auch in der Zeit danach sei es ihr sehr schlecht gegangen. Ihre Diagnosen? „Depressionen, generalisierte Angst- und Panikstörung, ADHS, eine Posttraumatische Belastungsstörung und eine Essstörung“, zählt sie der Reihe nach auf. Ihr gehe es mittlerweile viel besser, versichert sie. „Über zwei Jahre Psychotherapie, die immer noch läuft, haben mir – sorry – den Arsch gerettet“, sagt sie und lacht. Krankheit und Psychotherapie seien Lehrmeister, wenn man sich selber besser kennenlernen möchte.

Damals habe sie sich wie eine Batterie gefühlt, die gleichzeitig leer und überladen ist. Irgendwann habe sie vor lauter Panik das Haus nicht mehr verlassen können. „Ich vergesse manchmal, was ich schon alles geschafft habe. In ganz kleinen Etappen. Erst zehn Schritte vor die Tür, dann 15, dann 20 und so weiter. Mittlerweile gehe ich wandern und liebe es.“

Der größte Gewinn einer Selbsthilfegruppe ist es zu merken, dass man nicht alleine ist.
Myra Abel, Gründerin von „Kopfkino“

Der Kipppunkt in ihrer Geschichte war der Moment, in dem sie begriffen hat: „Ich bin viel mehr als meine Diagnosen. Symptome sind ein Teil meiner Krankheiten, aber nicht von mir selbst. Und ich bin ihnen nicht ausgeliefert. Ich kann mich entscheiden, gesund werden zu wollen.“ Vieles habe sie seitdem lernen und noch viel mehr „entlernen“ müssen.

Myra Abel fühlte sich – trotz guter Unterstützung durch ihre Eltern und der Therapie – aber dennoch allein mit ihren Themen. Als sie von der Möglichkeit hörte, in einer Selbsthilfegruppe in den Austausch mit Gleichgesinnten zu gehen, wandte sie sich an die Selbsthilfekontaktstelle des Paritätischen im Kreis Euskirchen. „Leider gab es keine bestehende Gruppe, die für mich gepasst hätte. Aber dann fragte man mich, ob ich nicht eine gründen wolle.“

Myra Abel hörte sich an, wie das vonstatten gehen könnte, und erklärte sich bereit, mit Unterstützung der Sozialarbeiterin der Selbsthilfekontaktstelle loszulegen. „Kopfkino“ sollte die Gruppe heißen, angelehnt an die Fantasie-Projektionen, die vor allem Menschen mit Depression oder Angststörung bestens kennen.

Die Kopfkino-Gruppe trifft sich zweiwöchentlich in Euskirchen

Auf einen ersten Aufruf über Soziale Medien, den Newsletter des Paritätischen und der Zeitungen meldeten sich gleich so viele Interessenten, dass die junge Frau eine Warteliste führte. Seit vergangenem Jahr treffen sich die Teilnehmenden im Zwei-Wochen-Rhythmus, und Myra Abel leitet die Gruppe. „Es sind zehn Frauen und Männer aller Altersklassen, die sich hier austauschen. Über eine Whatsapp-Gruppe sammele ich Themen, zu denen wir uns dann besprechen“, so die 23-Jährige.

Dabei geht es um das Erkennen von Grenzen (die eigenen und die anderer), um Selbstfürsorge oder die Frage, woran man erkennen kann, dass es einem gut oder schlecht geht. „Wir haben auch schon mal einen Brief an unsere Erkrankung geschrieben“, erzählt Abel, die von der Selbsthilfekontaktstelle mit Ideen und Material zur Gruppengestaltung ausgestattet wurde. Eine Selbsthilfegruppe stehe und falle mit den Gruppenmitgliedern und ihrer Bereitschaft, sich einzulassen. „Und das läuft bei uns wirklich sehr gut.“

Manche Menschen hätten keinen, mit dem sie über diese Themen offen sprechen könnten. „Zu sehen, wie wir alle Fortschritte machen, tut sehr gut“, verrät Myra Abel. Der größte Gewinn einer Selbsthilfegruppe aber sei „zu merken, dass man nicht alleine ist“. Das gebe ihr sehr viel, zumal sie lange Zeit geglaubt habe, dass niemand sonst so etwas durchlebe wie sie. „Selbsthilfe ersetzt keine Psychotherapie. Dafür erfährt man dort aber ein ganz besonderes Zusammengehörigkeitsgefühl“, so die Hellenthalerin.


Wild, frech und neugierig machend

„Willkommen auf meinem Blog und Verlag für mentale Gesundheit“, begrüßt Myra Abel die Besucher ihrer Homepage, die wild und frech daherkommt und neugierig macht auf diese junge Frau, die sich als chronische Perfektionistin bezeichnet. „Wenn ich in den letzten Jahren eines gelernt habe, dann ist es, dass jede Entscheidung besser ist als keine“, schreibt sie da. Und: „Ich habe beschlossen, dass meine Kinder jetzt laufen lernen. Es ist Zeit.“

Mit den Kindern sind die vier Bücher gemeint, die Myra Abel alias M. Ode Sierrah geschrieben hat: drei Gedichtbände und einen Roman. Deshalb habe sie jetzt einen eigenen Verlag gegründet. „Name the Pen“ heißt er, und es soll nicht mehr lange dauern, bis Myra Abels Bücher dort erhältlich sind. Auf der Homepage erfährt man auch einiges über deren Inhalte.

An dem umfassendsten Projekt, ihrem Roman „One hell of a girl“, hat Myra Abels fünf Jahre gearbeitet. Geschrieben hat sie ihn auf Englisch, damit habe sie ein wenig Abstand zu der Geschichte gewonnen, die zumindest in Teilen autobiografisch ist. Myra Abel: „Auf Deutsch zu schreiben war mir irgendwie immer eine Spur zu nah dran an meinen inneren Monologen.“ Eine Übersetzung ins Deutsche soll es aber aller Voraussicht nach bald geben.

Auch die Blog-Einträge auf der Homepage hat Myra Abels in Englisch verfasst. Wer es sich übersetzen lassen möchte, kann dies über die Einstellungen im Browser bewerkstelligen.


100.000 Gruppen in Deutschland

Rund 3,5 Millionen Menschen in Deutschland sind in Selbsthilfegruppen organisiert. Insgesamt gibt es laut Bundesgesundheitsministerium etwa 100.000 Gruppen im Land, in denen sich Menschen zusammenschließen, die die gleiche Krankheit haben oder sich in ähnlichen Lebenssituationen befinden. Durch den regelmäßigen Austausch mit Gleichgesinnten und die gegenseitige Unterstützung kann sich die Lebensqualität Betroffener nachweislich verbessern.

Wer eine Selbsthilfegruppe zu einem bestimmten Thema sucht oder selber eine gründen möchte, ist beim Paritätischen Kreis Euskirchen richtig. In der dortigen Selbsthilfekontaktstelle gibt es Infos über das bestehende Angebot im Kreis sowie Hilfestellung bei der Gründung. Außerdem erhält man hier allerlei Leitfäden, Gesprächshilfen und Methodensammlungen. Gruppenleitenden werden zudem Fortbildungen und Workshops zu Selbsthilfe-Themen angeboten. Der Paritätische stellt außerdem Räume für die Gruppentreffen zur Verfügung oder hilft bei der Suche.