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DigitalisierungWie 2023 in der Schule unterrichtet wird – ein Besuch in der Gesamtschule Weilerswist

Lesezeit 7 Minuten
Während Lehrerin Claudia Arens vorne an der digitalen Tafel Erläuterungen gibt, hören die Schüler aufmerksam zu.

Schule als „Sachliche Romanze“ wie von Erich Kästner? Nicht mit Lehrerin Claudia Arens, die das Gedicht mit ihrer Klasse der Gesamtschule Weilerswist bespricht.

Im Alltag der Weilerswister Gesamtschule geht es merklich digitaler zu als vor einigen Jahren. Ein Teil der Serie Schule 2023.

„Ich fühle mich gerade so lost“, sagt Marie. So drücken es heutzutage Zehntklässlerinnen aus, wenn sie etwas nicht verstehen – die ältere Generation hätte wie ein Ochse vor dem Berg gestanden oder etwas nicht gerafft. Heute ist man lost, verloren. Genau wie sich die Jugendsprache verändert hat, hat sich auch der Unterricht in den vergangenen Jahren verändert. Aus dem „Hefte raus, Vokabeltest“ ist an der Weilerswister Gesamtschule ein „Smartphone raus, Kahoot-Quiz“ geworden.

Mithilfe eines QR-Codes wählt sich der Schüler im Jahr 2023 zu einer vorher vom Lehrer konzipierten Wissensabfrage ein. Es geht um Schnelligkeit und – wie beim klassischen Vokabeltest – vor allem um richtige Antworten. Ob der Schüler richtig liegt, sieht er, wenn am Smartboard das Licht angeht.

Digitale Infrastruktur der Weilerswister Schule ist noch nicht ausreichend 

Und das geht an diesem Tag tatsächlich nicht immer bei allen Schülern im Erweiterungskurs der 10.3 an. In den Fragen geht es um Lyrik. Unterrichtsstoff, aus dem keine Schülerträume sind, aber der in wenigen Wochen in der Zentralen Prüfung (ZP) abgefragt werden kann. Und bei Marie gibt es noch Wissenslücken.

Doch es gibt auch eine kleine Entschuldigung. Die digitale Generalprobe hat nämlich ihre Tücken. Die Corona-Pandemie hat die Digitalisierung in den Schulen im Kreis Euskirchen zwar vorangetrieben. Doch die digitale Infrastruktur ist teilweise – wie Marie – noch lost.

In den Herbstferien werden 30 Kilometer Netzwerkkabel verlegt

Und so steigt der Unmut bei Lehrer und Schülern, als bei Frage 16 plötzlich die WLAN-Verbindung unterbrochen ist und auch die mobilen Daten bei Handys und iPads das nicht kompensieren können.

Anspruch und Wirklichkeit klaffen im Jahr 2023 weit auseinander. Ein Vokabelheft wünscht sich aber niemand zurück. Stattdessen soll es Netzwerkkabel geben. Laut Stephan Steinhoff, Leiter der Gesamtschule, werden bis Ende der Herbstferien 30 Kilometer Kabel in der Schule verlegt.

Eigentlich wollte man bei der Digitalisierung schon weiter sein. Weil aber laut Steinhoff Endgeräte und Infrastruktur nicht parallel beantragt worden sind – obwohl die Fördermittel entweder für das eine oder das andere gereicht hätten – wurde der erste Antrag seitens der Bezirksregierung abgelehnt. Mittlerweile sei er aber genehmigt, so der Schulleiter.

Den Unmut der Schüler über die mangelhafte WLAN-Ausleuchtung im Jahr 2023 fängt Lehrerin Claudia Arens auf. Mit Empathie. Einer Eigenschaft, die auf keinem Ausbildungsplan in keiner Uni in Deutschland steht. Weil sie eben nicht lern- und lehrbar ist. Die 52-jährige Keldenicherin hat sie und sagt vor der ersten Stunde an diesem normalen Schulfreitag etwas Bemerkenswertes: „Mir macht mein Job Spaß.“ Spaß und Schule – schließt sich das nicht per se aus? „Nein“, antwortet Arens.

Lehrerin muss heute häufiger Streit unter Schülern schlichten 

Die Eifelerin sagt aber auch: „Die Arbeit hat sich verändert. Nicht erst seit Corona.“ So werde manchmal mehr Zeit vor der Tür auf dem Schulflur verbracht als im Klassenraum. Der Grund: Es muss zwischen Schülern etwas geklärt werden. „Manchmal habe ich das Gefühl, dass wir mehr schlichten und sprechen als unterrichten“, sagt die Lehrerin.

Wenn aber unterrichtet wird, dann ist die 52-Jährige in ihrem Element. Ein flotter Spruch hier, ein offenes Ohr für eine vom Schüler angekündigte „doofe Frage“ dort. Arens erinnert ein wenig an TV-Lehrer Doktor Specht, der in den 1990er-Jahren einen romantisch verklärten Blick aus und in die Schule vermittelte.

Wenn das WLAN ausfällt, geht es halt analog weiter

„Ich möchte keine Lehrerin sein, die nur in die Schule kommt, um das Maßband abzuschneiden, das als Countdown bis zur Pensionierung dient“, sagt Arens. Und das merkt man der Deutsch- und Spanischlehrerin an. Vor, während und nach dem Unterricht – auch wenn nicht immer alles nach Plan läuft. Dass im Schulalltag   mitunter mal etwas schiefgeht, liegt auch an der Digitalisierung, die in aller Munde ist.

So macht das WLAN nicht nur beim digitalen Quiz einen Strich durch die Rechnung, sondern auch in der Oberstufe. Der Deutschkurs hat gerade eine Klassenarbeit über „Das Parfüm“ geschrieben. Nun soll der Film von Tom Tykwer mit dem Roman von Patrick Süskind verglichen werden. Die Erkenntnisse werden aufgeschrieben, an Stellwände geheftet und in kleinen Gruppen vorgestellt. Schulalltag, kein pädagogisches Chichi.

„Ich finde das gut. Wenn wir Unterrichtsbesuche haben, wird ein Unterricht konzipiert, der nicht alltagstauglich ist. Nur um Eindruck zu machen“, sagt Schüler Linus. Dabei mache es bei ihm und seinen Freunden viel mehr Eindruck, wenn man versuche, Schüler zu verstehen, und sie nicht von oben herab behandele.

Behandelt wird in der Doppelstunde Deutsch der 10.3 nach dem Quiz noch die „Sachliche Romanze“ von Erich Kästner. Ganz klassisch: Lehrer stellt Fragen, Schüler antworten und schreiben mit. Manche ins Heft, manche auf dem iPad. Ob der Titel des Gedichts auch der Arbeitstitel für den Lehreralltag ist? „Nein“, sagt Arens. Dafür stecke zu viel Leidenschaft und Emotion in dem Job, den sie gerne als Beruf bezeichnet, um den Verweis auf die „Berufung“ zu ziehen.

Das digitale Whiteboard verdrängt grüne Tafel und Overheadprojektor 

Aber dieser Beruf hat sich geändert. Er ist schneller, anders geworden. In einigen Schulen im Kreis Euskirchen gibt es keine grüne Tafel mehr – verdrängt durch digitale Whiteboards. In Weilerswist steht auf einem Schrank in der Ecke ein Overheadprojektor. Er wirkt wie ein Relikt aus einem Land vor unserer Zeit. Der sei schon lange nicht mehr benutzt worden, sagt Arens. Zum Beweis könnte man mit dem Finger über die Glasfläche fahren, auf die früher beschriebene oder bedruckte Klarsichtfolien gelegt wurden. Am Finger bliebe eine Staubschicht haften.

Schüler müssen manche Dinge noch selbst schreiben
Claudia Arens, Gesamtschullehrerin

Eine Staubschicht, die laut Arens auch länger schon am Bildungssystem haftet. „Wir lehren einige Dinge, die Kinder nicht brauchen, und wir lernen an der Uni Dinge, die wir nicht brauchen. Und vor allem werden wir nicht auf den Beruf vorbereitet“, sagt Claudia Arens: „Das Bildungssystem ist 100 Jahre alt und hat sich nicht weiterentwickelt. Die Gesellschaft aber alleine in den vergangenen drei Jahren ungemein.“ Entsprechend müsse das System angepasst werden.

Beispielsweise durch das Fach „Fit for Life“. Auf dem Lehrplan müssten Handwerk und Finanzen stehen. Oder auch der Umgang mit Social Media.

Das Fach „Fit for Life“ gibt es in Weilerswist (noch) nicht. Was es dort aber gibt, ist Dalton-Unterricht. Schüler werden systematisch an das selbsttätige Lernen und die Kooperation mit den Mitschülern und Mitschülerinnen herangeführt. In den sogenannten Dalton-Stunden wird Unterrichtszeit für diese selbstständige Arbeit zur Verfügung gestellt. Die Schüler entscheiden selbst über Reihenfolge, die Wahl der Lehrer, den Raum und die Kooperationsform. In der übrigen Unterrichtszeit findet Unterricht in der üblichen Form statt.

Dalton-Unterricht ist für Gesamtschule Weilerswist Alleinstellungsmerkmal

Der Dalton-Unterricht ist im Kreis Euskirchen ein Alleinstellungsmerkmal für die Gesamtschule. In der Theorie klingt das gut, in der Praxis ist das Konzept für Fünftklässler eine Herausforderung und für Ältere eine gute Gelegenheit Dinge zu besprechen, die nicht unbedingt prüfungsrelevant sind.

Beim Blick durch die Klassen fällt auf, dass sich die Zusammensetzung über all die Jahre eigentlich nicht geändert hat. Es gibt die, die zuhören, und die, die zumindest so tun, als ob sie es täten. Es gibt die, denen ihr Outfit augenscheinlich völlig egal ist. Und es gibt die, die Schulflure mit einem Laufsteg verwechseln. Es gibt Streber, es gibt Nerds. Es gibt Kümmerer und es gibt die, um die sich gekümmert werden muss.

Was sich aber verändert hat: Briefchen werden keine mehr geschrieben. Stattdessen wird das Handy – anders als vereinbart – nicht zur Recherche genutzt, sondern um eine Whatsapp zu schicken. Und in der letzten Reihe bringt die Digitalisierung denjenigen einen Vorteil, die lieber das Basketballspiel aus der vergangenen NBA-Nacht schauen wollen, als auf dem iPad das geforderte Arbeitsblatt zu bearbeiten.

In der letzten Stunde des Tages steht Spanisch auf dem Programm. Und in dem Fall ist auch Spanisch drin, wo Spanisch draufsteht. Gästen kommt alles spanisch vor, denn es wird fast ausnahmslos in der Fremdsprache gesprochen.

Die Lehrerin zeigt Empathie und Spaß an ihrem Beruf

Vieles passiert hier mithilfe des iPads und der digitalen Tafel. Doch dem Wunsch, ein Foto von der Deklination der „Future“ abzufotografieren und in die Cloud zu laden, kommt die Lehrerin nicht nach.

„Schüler müssen manche Dinge noch selbst schreiben. Dazu gehört auch eine neue Zeitform“, erklärt Arens. Wer dem Unterricht als Gast beiwohnt, fühlt sich wie ein Geflüchteter, der in eine Klasse gesetzt wird und kein Wort versteht. Aber auch als Gast ist vor allem eins zu spüren: Empathie und der Spaß am Beruf.


Die Serie

Sind Schulen im Kreis Euskirchen Problemzone oder Wohlfühlort? Welche Herausforderungen gilt es zu meistern und wie gut ist die Digitalisierung an den Schulen wirklich? Und was ist eigentlich ein Bündelungsgymnasium? Sind Hauptschulen nötig? Fragen, die die Redaktion in mehreren Teilen beantwortet und dabei einen größeren Blick übers Vokabelheft hinaus wirft.


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