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Zwei Jahre nach der FlutDie vergebliche Suche nach dem vermissten Frank (22)

Lesezeit 6 Minuten
Zum Gedenken an die Todesopfer der Flutkatastrophe entzünden Menschen am Ufer der Ahr im Dorf Schuld Kerzen.

Zum Gedenken an die Todesopfer der Flutkatastrophe entzünden Menschen am Ufer der Ahr im Dorf Schuld Kerzen.

Das letzte Lebenszeichen von Frank Neufeld aus Heppingen war ein Handy-Video in der Nacht zum 15. Juli 2021. Seitdem ist er verschollen. Jetzt, zwei Jahre nach der Flut-Katastrophe, wurde er für tot erklärt. Amtlich ist der Fall damit geschlossen. Menschlich nicht.

Das letzte Handy-Video zeigt Bilder aus der Dunkelheit. Ein Garten und dann das Wasser, es schwappt über den Rasen und kommt immer näher. Frank Neufeld (22) hat dieses Video aufgenommen. Es ist sein letztes Lebenszeichen, am 15. Juli 2021, kurz nach Mitternacht. Frank Neufeld ist bei der Flutkatastrophe an der Ahr ums Leben gekommen.

Wie seine Eltern. Davon ist sein Bruder überzeugt und mittlerweile auch das Amtsgericht in Ahrweiler. Es hat den jungen Mann, den seit der Katastrophe niemand mehr sah, mit Beschluss vom 14. Juni 2023 für tot erklärt – in einer monatelangen Prozedur, zwei Jahre nach der Flut. Amtlich ist damit im vorletzten Vermisstenfall der Aktendeckel geschlossen worden. Menschlich noch lange nicht.

Was in der Flutnacht mit Frank und seinen Eltern, Hans und Ella Neufeld, genau geschah, wird niemals jemand mit Gewissheit aufklären können. Das Handy-Video lässt nicht erkennen, dass Frank Neufeld zu diesem Zeitpunkt schon wusste, wie lebensbedrohlich die Lage ist.

"Ich war schon als Kind ein Kämpfer", schrieb Frank auf Instagram

Ob die Familie überhaupt wusste, dass das Haus, in dem sie am Rand des 900-Seelen-Ortes Heppingen, einem Teil der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler lebte, schon vor Jahrzehnten bei einer Ahr-Flut im Wasser stand und Nachbarn dann einen Steg benötigten, um zur Eingangstür zu kommen? Dass auch das große Neubaugebiet gleich nebenan auf Wiesen errichtet worden war, die in der Vergangenheit unter Wasser standen? "Das war doch immer nur Grundwasser", sagt ein Anlieger zwei Jahre nach der Flut und winkt ab: "Ganz klares Wasser, das man einfach abpumpen konnte." In der Nacht zum 15. Juli aber seien braune Wellen über die Menschen in Heppingen hereingebrochen, die  viele Stunden und Kilometer alles mit sich gerissen hatten. Über die Toten von nebenan will der Nachbar nicht sprechen.

Vielleicht gab die Eisenbahntrasse zwischen dem Haus der Familie Neufeld und der Ahr trügerische Sicherheit – so sehr, dass Vater, Mutter und Sohn erst spät auf den Gedanken kamen, wie die Nachbarn in den Weinbergen Schutz vor der steigenden Flut zu suchen. Überlebende vermuten, dass die Neufelds auf der Straße von Wassermassen mitgerissen wurden. Die Leiche des 70 Jahre alten Hans Neufeld ist zwei Wochen nach der Katastrophe im nächsten Ort gefunden worden, der Körper seiner 59 Jahre alten Frau Ella sieben Kilometer entfernt im Stadtgebiet von Remagen. Doch vom Sohn Frank fehlte jede Spur.

Sein älterer Bruder, der in Bonn lebt, startete eine Suche im Internet, lange in der Hoffnung, ihn doch noch irgendwo lebend aufzuspüren. Frühere Mitschüler des Vermissten von der Hauptschule in Bad Neuenahr-Ahrweiler und der berufsbildenden Schule nahmen Anteil. Frank Neufeld hatte als Maschinen- und Anlagenführer gearbeitet. Auf  Instagram verbreitete er seine eigene elektronische Musik, Hundefotos  - und ein Kinderbild. Es zeigt den etwa sechsjährigen Frank in einem blauen Anorak, der durch den Garten tobt und in einer wilden Geste ein  Plastikschwert schwingt. Das zeige, schrieb er, "dass ich schon als Kind ein Kämpfer war". 

In der Bekanntmachung heißt es: "Der Verschollene wird für TOT erklärt"

Als im Tal die Wassermassen abgeflossen, die Autowracks abtransportiert und der Schlamm aus den Häusern geschaufelt war, begann die Auseinandersetzung um Eigentum und Verluste, der Kampf mit Versicherungen und Behörden. In dieser Zeit schaltete der Bruder einen Notar aus Bonn ein, der schließlich beim Amtsgericht in Ahrweiler die Feststellung des Todes von Frank Neufeld beantragte. "Das ist grundsätzlich ein Jahr nach dem Vermisstendatum möglich", sagte Petra Hürten, die Vertreterin der Behördenleiterin und beruft sich auf das Verschollenheitsgesetz.

Ein Aushang erfolgte im Gerichtsgebäude in Ahrweiler. Menschen, die den Vermissten vielleicht doch noch nach der Flutnacht gesehen haben könnten, erhielten wochenlang Zeit, sich zu melden. Nichts.  Staatsanwaltschaft und Polizei prüften ihrerseits mögliche Einwände gegen eine Todeserklärung, ein zweites Mal musste die Todeserklärung öffentlich ausgehängt werden, um schließlich rechtsgültig werden zu können. Erst am Ende der Frist kann eine Sterbeurkunde beantragt werden, sodass endlich die Formalitäten mit der Versicherung geregelt werden können.

„Der Verschollene“, heißt es im Aushang, „wird für TOT erklärt“. TOT in Großbuchstaben. Er sei „mit hoher Wahrscheinlichkeit am 15.07.2021 aufgrund der ‚Flutkatastrophe 2021 im Ahrtal‘ verstorben“. Die Festsetzung des Datums begründet sich aus dem Video um Mitternacht heraus, einem "letzten Lebenszeichen".

Doch nimmt ein Stempel auf einer Urkunde die Ungewissheit, wenn es nichts gibt, das beerdigt werden kann? Für einen 60-Jährigen aus Kreuzberg (Altenahr), den letzten Vermissten der Flut, gibt es ein solches Verfahren nicht. Am Amtsgericht ist sein Schicksal unbekannt.

"Decken Sie die Leiche zu, wir können uns nicht kümmern", sagte die Polizei

Einer, der von der ersten Stunde der Katastrophe an für die Betroffenen an der Ahr zuständig war, ist der rheinland-pfälzische Opferbeauftragte Detlef Placzek. Für ein Gespräch steht er nicht zur Verfügung, aber er verweist auf seinen Tätigkeitsbericht. Darin heißt es etwa: „Eine große Anzahl ungeklärter Anfragen wurde nicht nur seitens der Anrufenden, sondern auch von den Therapeutinnen und Therapeuten an den Opferbeauftragten der Landesregierung herangetragen, die jeweils beantwortet und gelöst werden mussten, z.B. zu Fragen der Abrechnung therapeutischer Beratungen aufgrund des Verlusts der Versichertenkarte und infolgedessen nicht vorhandener Daten.“

Der Umgang der amtlichen Stellen mit den Toten und den Betroffenen klingt meist sehr befremdlich. Während der Flut war das nicht anders, aber den Umständen geschuldet. „Decken Sie sie zu. Wir können uns jetzt nicht darum kümmern“, sagte die Polizei am Telefon einem Bewohner der Ahrweiler Altstadt, nachdem er in seinem Hof die Leiche einer Frau gefunden hatte. Die Polizeiwache stand selbst in der Flut. Erst später stellte sich heraus, dass die Tote die Besucherin eines Campingplatzes in mehreren Hundert Metern Entfernung war, deren Körper um die historische Stadt herum gespült worden war. Ihr Mann starb auf halber Strecke ebenfalls in den Fluten. So ereilte fast 80 Menschen allein in der Kreisstadt an der Ahr der Tod, als die üblicherweise kaum 20 Meter breite Ahr, plötzlich 800 Meter breit durch alle Häuser strömte.

Im November 2021, fast ein halbes Jahr nach der Katastrophe, schickte der Bruder von Frank Neufeld eine Art Abschiedsgruß über Facebook: "Wie ihr wisst, wird mein kleiner Bruder seit der Flut noch vermisst. Lasst euch doch noch mal alle durch seinen letzten Song seine Hand reichen." Er setzte einen Link dazu. Der Song heißt "Hold Your Hand". 


184 Menschen starben bei der Starkregenkatastrophe im Juli 2021. 134 davon an der Ahr, 49 in Nordrhein-Westfalen, einer im Raum Trier. 1300 Menschen galten in den ersten Wirren nach der Flutkatastrophe im Ahrtal vor zwei Jahren als vermisst. Mit jedem Lebenszeichen und jedem Leichenfund wurden die Zahlen korrigiert.

Der Körper einer Frau wurde sogar erst in Rotterdam aus dem Wasser gezogen und nach langwieriger DNA-Analyse identifiziert. Nun gibt es nur noch einen Mann, dessen Verbleib ungeklärt ist, sodass die Zahl der Toten noch um eins steigen könnte.

Überlebende - viele von ihnen arbeitslos geworden - wandten sich in ihrer Not zu Tausenden an die jeweilige Landesregierung, um Obdach sowie Geld für die Beerdigung von Angehörigen und das blanke Überleben zu erhalten. Auch psychologische Unterstützung war gefragt, später Hilfe bei der Suche nach einem neuen, sicheren Bauplatz. 

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