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Nach der AhrflutWeihnachten auf der Baustelle

Lesezeit 6 Minuten
Ein Weihnachtsbaum steht neben einer verrammelten Ladenfront.

Ahrweiler 17 Monate nach der Flut. Eine Ladenfront in der Ahrhutstraße ist verrammelt. Links und rechts werden wieder Geschäfte betrieben

Beim Hochwasser im Juli 2021 hat Familie Bürger aus Ahrweiler fast ihr ganzes Hab und Gut verloren. Auch ihr zweites Weihnachtsfest nach der Katastrophe wird kein leichtes sein.

 Im Wohnzimmer von Jeanette und Holger Bürger in der Ahrweiler Altstadt (Namen geändert) ist nur Platz für einen ganz kleinen Weihnachtsbaum. Nicht mal einen Meter misst er. Der Raum in der ersten Etage ist der einzige, der wegen der Kosten für den Wiederaufbau und der Energiekrise ordentlich geheizt wird – obwohl der Ersatz für die bei der Flut zerstörte Gasheizung seit Februar endlich funktioniert. Schon im vergangenen Jahr hatte die Redaktion die Familie kurz vor dem Weihnachtsfest besucht und über ihre prekäre Lage berichtet. In der Stube im ersten Stock soll sich am ersten Weihnachtstag die gesamte Familie mit den fünf Kindern und den Enkeln treffen. Das Weihnachtsessen liegt seit sieben Wochen in der Tiefkühltruhe. „Es gibt Schweinebraten mit Knödeln und Rotkohl. Die waren im Angebot“, sagt Bürger.

Es gibt Schweinebraten mit Knödeln und Rotkohl. Die waren im Angebot.
Jeanette Bürger

Im Erdgeschoss ihres mehr als 100 Jahre alten Hauses in der Altstadt von Ahrweiler, wo die Flut nur die Wände stehen ließ, ist erst vor anderthalb Monaten wieder ein Fußboden eingebaut worden. Den hat ein Helfer aus Saarbrücken für etwas Geld an einem Feiertag verlegt. Die Fliesen für das Bad hatte die Familie mit Betroffenenrabatt bei einem Händler erstanden. „Aber das erweist sich gerade als schwierigste Hürde, denn ich finde keinen Handwerker, der sie einbauen will.“ Ihr Mann will sich darum nach den Feiertagen selbst daran versuchen. Im Eingangsflur, neben der Garderobe und dem Treppenaufgang in die oberen Wohnräume steht seit Tagen ein erster Weihnachtsbaum. Er ist zwar auch nicht groß, aber doch größer als der Baum fürs Wohnzimmer. Die Kinder haben ihn geschmückt. Zwei Meter hoch stand im Juli 2021 das Wasser im Erdgeschoss. Über die Sprühmarkierung auf der Klinkerfassade ist inzwischen in Höhe des Wasserstands vom 14. Juli 2021 eine Messingplakette angeschraubt worden. „Die Kinder haben auch die Lichterkette ans Haus gehängt“, erklärt Bürger. Von 16 bis 21 Uhr leuchten die LEDs, verwaltet von einer Zeitschaltuhr. Und eine Videokamera gibt es, denn wegen der teils leer stehenden Häuser und Baumaterialien im Freien treiben sich zu viele dunkle Gestalten in der Stadt herum. Die Polizei fährt verstärkt Streife.

Spendenholz für Flutopfer gibt es nicht mehr

Die Heizung im Kinderschlafzimmer im Erdgeschoss hat ein Bekannter angebracht. Aber Heizen kostet. „Der Gas-Abschlag beträgt gerade monatlich 370 Euro. Das funktioniert einfach nicht.“ Während die ältere Tochter mit ihren beiden Söhnen ausgezogen ist, würde in diesen Zimmern eigentlich die zweite Tochter mit ihrem vor zehn Wochen geborenen Kind wohnen. Doch sie zieht das beheizte Wohnzimmer in der ersten Etage vor. „Unser Schlafzimmer haben wir auf knapp 19 Grad runtergeregelt.“ Im Wohnzimmer steht ein Holzofen. Aber jeder Scheit Holz ist kostbar. „Obwohl ich das Holz noch vergleichbar günstig für etwas mehr als 110 Euro kaufen konnte, sagt Jeanette Bürger. „Spendenholz“ für die Flutopfer, wie vor gut einem Jahr, gibt es nicht mehr.

Die Familie Bürger ist vergleichsweise weit mit dem Wiederaufbau. Beim Nachbarn zur rechten, der das Haus einer in der Flut gestorbenen Frau kaufte, liegt seit einem Missgeschick mit einer vor der Gasuhr durchtrennten Leitung das Baumaterial ungenutzt herum. Und zur Linken ist gerade erst mit dem Entkernen begonnen worden, nachdem die Senioren sich gegen ihre Familie mit dem Willen zur Rückkehr ins alte Haus durchsetzten. „Wir haben gerade einen Riss in der Wand, seit auf dem Nachbargrundstück das Fachwerk geöffnet und dort heftig geklopft wurde“, sagt Bürger. Das Leben in einer Stadt, die Dauerbaustelle ist, setzt ihr zu. „Auch hinten raus wird gebaut.“ Die Straße rauf und runter gibt es Häuser mit leeren Fenstern und Flutschlamm dran. Eine Familie besitzt statt ihres Hauses gerade nur eine frische Bodenplatte.

In den Fußgängerzonen, wo all die Geschäfte waren, sieht es nicht viel besser aus. Ein paar Läden haben neu eröffnet, andere sind Ruinen. „Einige sitzen es einfach aus. Sie warten, dass andere wieder da sind, weil es sich sonst angeblich nicht lohnt. Aber wenn alle warten, funktioniert das nicht“, sagt Bürger. Sie weiß von Läden, die nicht wieder öffnen werden. Ein alteingesessenes Schuhgeschäft und ein bekannter Spielwarenladen gehören dazu. Ein Eisen- und Haushaltswarenhändler zankt sich mit der Fliesenfirma, deren Boden auf vermutlich zu feuchtem Untergrund hochkam. Der Betreiber eines Kiosks mit Insolvenz hat aufgegeben. Ein Lichtblick: Drei Traditionsbäckereien und eine Metzgerei sind wieder geöffnet. Und auf dem Marktplatz vor der im Innern stark beschädigten Laurentiuskirche steht der altgewohnte Baum mit Gold eingefärbten Zapfen. „Aber es fehlt etwas: Die Geschenkpakete, die leider immer leer waren, wovon ich mich als Kind überzeugt habe. Aber sie gehörten immer dazu“, findet Jeanette Bürger.

Der starke Zusammenhalt und die Solidarität bröckeln

Apropos Geschenke: Die wird es bei der Familienfeier auf jeden Fall geben. „Aber ich habe mir ein Limit von 50 Euro pro Person gesetzt.“ Am zweiten Weihnachtstag gibt es ein Treffen der „Flutkinder“ bei Glühwein und Kakao. „Wir haben uns hier alle nach der Flut kennengelernt und lange Zeit jeden Samstag getroffen, nun immer noch einmal im Monat“, sagt Bürger. Sie bedauert, dass von dem unglaublich starken Zusammenhalt kurz nach der Flut – zwischen Bewohnern des Ahrtals und auswärtigen Helfern – seit dem Frühjahr nicht viel übrig ist. „Aber es gibt in den Sozialen Medien noch Gruppen wie ,Familienpatenschaften‘ und ,Flutengel‘.“ Es gibt noch eine Helferin, die psychische Unterstützung bietet. „Sie fährt alle sechs bis acht Wochen noch zu 18 Familien und verteilt dort, was sie an Spenden zusammengetragen hat.“ Auch Essenswaren sind dabei. „Ich brauche natürlich keine Lebensmittel, aber das entlastet finanziell“, sagt Bürger.

Die Veränderungen in der Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler, die doch trotz der Zerstörungen und einem Bevölkerungsschwund von weit über sieben Prozent „wieder bunt werden“ will, verfolgt sie ganz genau. Den Aufbau der Behelfsbrücken, die neuen Parkplätze in den Anlagen, die vor der mittelalterlichen Stadtmauer an den alten Wassergraben erinnern sollten. „Ich finde das aber gut, weil in der Altstadt einfach alles zugeparkt ist. Ich bin auch sicher, dass diese Parkplätze nur drei Jahre bleiben werden. Die Stadt ist viel zu Stolz auf ihr Bild, als dass das bleiben könnte. Ein Enkelkind geht in den einzigen Kindergarten, der von der Flut verschont blieb. „Wegen des Wiederaufbaus fehlt aber das Geld für die Sanierung, und er ist schon bald 60 Jahre alt.“ Die jüngste Tochter besucht die im Erdgeschoss immer noch zerstörte Hauptschule direkt an der Ahr, wo gerade der Schulhof auf ein Drittel reduziert werden soll zumal nebenan Wohnblöcke geplant sind. Und immer noch werden Uferbereiche für Bauten vorgesehen. Bald ist 2023, aber der Wiederaufbau, denkt Bürger, wird noch Jahre brauchen.