BaldenbergWie Kinder 1945 für einen Moment unfreiwillig den Krieg fortsetzten

Die Flak-Batterie auf dem Baldenberg nach ihrer vermeintlichen Zerstörung. Allerdings war das linke Geschütz noch funktionstüchtig – und es war auch noch mit einer letzten Granate geladen.
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Baldenberg – Die Bewohner des kleinen Örtchens Güntenbecke südlich von Meinerzhagen waren bestimmt wie vom Donner gerührt, als auf einem Feld ganz in der Nähe ihres Dorfes am helllichten Tag eine Granate einschlug. Und das zu Friedenszeiten. Der 2. Weltkrieg war seit Wochen vorüber. Oder etwa doch nicht? Doch, er war es zum Glück. Aber die Güntenbecker konnten ja nicht ahnen, dass ein paar Bergneustädter Kinder unfreiwillig Absender der gefährlichen Luftpost waren.
Die „Acht-Acht“ auf dem ehemaligen Turnplatz
Aber der Reihe nach: Oberhalb von Baldenberg, auf dem ehemaligen Turnplatz des TV Baldenberg, auf dem der Verein heute Bogenschießsport betreibt, hatte die Wehrmacht in den letzten Kriegswochen vor 75 Jahren Stellung bezogen mit mehreren Geschützen einer 8,8 cm-Flak-Batterie, auch „Acht-Acht“ genannt. Auf dem Turnplatz sollte es in den letzten Kriegstagen zu einem Gefecht um die Hoheit über Baldenberg kommen, das mehrere Opfer forderte und auch vorentscheidende Kriegsauswirkungen auf das talabwärts gelegene Bergneustadt hatte.
Als es am frühen Abend des 10. April 1945 dämmerte, so erinnert sich die heute 85-jährige Inge Lenz, geb. Haas, kam Unruhe in Baldenberg auf. Eine versprengte Einheit von Wehrmachtssoldaten erreichte das kleine Dorf, das unmittelbar an der Stadtgrenze zu Bergneustadt lag, damals aber noch zur Gemeinde Denklingen gehörte. Aus Richtung Hecke kommend waren sie über die alte Heerstraße, auch Napoleonstraße genannt, vorbei an Hüngringhausen bis nach Baldenberg gelangt – geflüchtet vor den amerikanischen Truppen, die ihnen mit dem 1. Bataillon des Infanterieregiments 310 auf den Fersen waren.

Inge Lenz’ Mutter machte den Soldaten Kartoffelsalat.
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Schon am nächsten Morgen standen die Amerikaner buchstäblich vor der Tür. Sie kamen ebenfalls aus Richtung Hecke, marschierten aber mit ihrer Artillerie – Panzer und Fußtruppen – querbeet von der Anhöhe „Am Brantenholz“ auf Baldenberg zu. Nach Aussagen von Friedhelm Jaeger (88) wurden sie gedeckt von einer weiteren Teileinheit (Platoon) des US-Infanterieregiments 310, die – von Oberagger über Schmittseifen kommend – Hüngringhausen besetzt und kurzzeitig ihren Kommandostand im Haus der Jaegers eingerichtet hatte.

Auch Horst Kowalski turnte damals auf der Flak herum.
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Die meisten deutschen Soldaten, müde von den vorausgegangenen Gefechten und der Flucht, entledigten sich ihrer Uniformen und waren bereit, sich zu ergeben. Einer von ihnen jedoch lag am Dorfrand hinter einer Hausecke und nahm die herannahenden Amerikaner mit seinem Karabiner ins Visier. Als einziger war er bereit, der Nazi-Propaganda zu folgen: sich selbst in aussichtsloser Lage dem Feind entgegenzustellen und „bis zum letzten Blutstropfen“ zu kämpfen.
Zum Glück kam es in Baldenberg nicht zu einem Häuserkampf, denn Inges Vater, Karl Haas, eilte herbei und trat dem im Anschlag liegenden Wehrmachtssoldaten entschlossen das Gewehr aus der Hand. Dabei brachte sich Haas selbst in Gefahr, weil sich der deutsche Soldat daraufhin empört gegen ihn wandte und ihn zu erschießen drohte. Nachdem ihm Haas die verheerenden Folgen für die Zivilbevölkerung klar gemacht hatte, wenn der übermächtige Feind gereizt und zurückschießen würde, lenkte er schließlich ein und ergab sich den Amerikanern.
Als die Amerikaner kamen, ließen die Soldaten den Granatenwerfer zurück
Ganz ohne Opfer gingen die Ereignisse von Baldenberg jedoch nicht ab. Vom Hörensagen erfuhr Inge Haas später, dass sich die deutschen Soldaten, die die „Acht-Acht“ bedienten, nach einem Feuergefecht angesichts der Übermacht der Amerikaner zur Flucht entschlossen hätten. Vorher seien sie dem „Nero-Befehl“ Hitlers gefolgt und hätten die eigenen Geschütze gesprengt. Dabei soll es einen Toten in den eigenen Reihen gegeben haben. Den gefallenen Wehrmachtssoldaten hätten die Baldenberger dort später in seinem Blut liegen sehen. Von ihren Eltern hörte Inge Lenz von dem schrecklichen Anblick eines verstümmelten Körpers.
Nachdem die amerikanischen GI Häuser und Schutzräume nach versteckten Soldaten und Waffen durchkämmt hatten, verließen sie am Nachmittag des 11. April Baldenberg und rückten auf Bergneustadt vor. Doch der Granateneinschlag südlich von Meinerzhagen Wochen später und ein Briefwechsel 36 Jahre danach lassen es als sehr wahrscheinlich erscheinen, dass sich die Gefechte zwischen der amerikanischen Artillerie und der deutschen Flak-Stellung anders abgespielt haben als ursprünglich von den Baldenbergern erzählt wurde.
Einem Schriftwechsel aus dem Jahr 1981 mit der Stadt Bergneustadt ist zu entnehmen, dass einer Frau Wille aus Briefen von Kriegskameraden ihres Mannes seit 1946 bekannt war, dass ihr Mann am 11. April 1945 durch einen Artillerie-Volltreffer auf sein Flak-Geschütz in Baldenberg gefallen ist. Die Stadtverwaltung bestätigte, dass der Gefreite Friedrich Wille, der zunächst als unbekannter Soldat auf dem Ehrenfeld des Bergneustädter Friedhofs beigesetzt worden war, im Oktober 1981 eine neue Grabplatte mit seinem Namen erhalten habe.
Also war das Flakgeschütz nicht von deutschen Einheiten zerstört, sondern von einem Treffer der amerikanischen Artillerie außer Gefecht gesetzt worden. Der hatte die Anlage zwar schwer beschädigt, aber eben nicht komplett vernichtet. Und höchstwahrscheinlich steckte seit diesem Treffer immer noch eine Granate abschussbereit in einem der Geschützrohre.
Und hier kommen dann wieder die Bergneustädter Kinder ins Spiel: Eines von ihnen war der heute 84-jährige Horst Kowalski, den Bergneustädtern bestens bekannt als „Karl von der Dörspe“ in den Brunnengesprächen alljährlich zum Stadtgeburtstag. In den Sommerferien 1945 holte Kowalski, damals neun Jahre alt, täglich eine Kanne Milch bei einem Baldenberger Bauern. Eines Tages war er mit seinen Spielkameraden, sechs oder sieben Jungen und Mädchen aus dem Ortsteil Ohl, wieder auf dem „Barmerich“. Sie hatten von den angeblich zerstörten Flak-Geschützen auf dem Turnplatz gehört, deren Überreste dort noch immer standen. Dem natürlichen Spieltrieb von Kindern folgend, wollten sie Soldat spielen. Neugierig inspizierten sie die Flak-Batterie.
Beim Soldatspielen aus Versehen den Abschussknopf gedrückt
Eines der Geschütze war noch insoweit intakt, als man die Kurbeln bedienen konnte, mit denen das Geschützrohr vertikal geneigt und horizontal gedreht wird. Die Kinder schauten ins Geschützrohr, setzten sich auf die Sitze der Flak-Kanoniere, drehten an den Kurbeln und bedienten einige Hebel.
Was dann passierte, wird Horst Kowalski nie vergessen: „Plötzlich löste sich mit ohrenbetäubendem Lärm ein Schuss, und anschließend vernahmen wir ein eindringliches Pfeifgeräusch in der Luft. Irgendjemand von uns musste versehentlich den Abschussknopf gedrückt haben. Das Geschütz war also doch nicht vollständig defekt! Wir hatten riesiges Glück, dass keinem von uns etwas passiert war. Aber wir bekamen einen gehörigen Schrecken und hatten die Hosen gestrichen voll.“ Panisch rannten die Kinder den Berg hinunter, die Milch schwappte aus der Kanne . „Zu Hause angekommen, war sie fast leer. Natürlich hatten wir uns geschworen, kein Sterbenswörtchen darüber zu verlieren.“
Den Bergneustädtern, die den Schuss vom Baldenberg ebenfalls gehört hatten und die Kinder darauf ansprachen, bestätigten sie lediglich, den Knall auch vernommen zu haben, aber keine Ahnung hätten, woher er gekommen und was passiert sei.
Granate schlug in der Nähe von von Güntenbecke ein
Tage später sprachen sich die Folgen in Bergneustadt herum: Hermann Schmies, der mit dem Transporter der Firma Gebr. Schmies Elektrogeräte nach Meinerzhagen auslieferte, hatte dort gehört, dass am Tag des Baldenberger „Manövers“ auf einem Feld bei Güntenbecke ein Granatgeschoss eingeschlagen sei. Glücklicherweise seien hierbei weder Menschen noch Tiere oder Gebäude zu Schaden gekommen.
Die Entfernung von Baldenberg nach Güntenbecke dürfte etwa 12 Kilometer Luftlinie betragen. Bei einer Reichweite der „Acht-Acht“ von fast 15 Kilometern ist also anzunehmen, dass es sich bei dem Einschlag nahe Güntenbecke um das Flak-Geschoss aus Baldenberg handelte.
„Da waren wir natürlich erleichtert und haben tief durchgeatmet“, sagt Kowalski, „dennoch haben wir zunächst dicht gehalten. Erst später konnten einige von uns das Wasser nicht halten. Nicht ohne Stolz haben sie von der Tat erzählt und sich damit gebrüstet, ihre ,militärischen Fähigkeiten’ unter Beweis gestellt zu haben.“