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Entnazifizierung in Oberberg„Untauglich für eine echte Aufarbeitung“

4 min

Wilhelm Tieke schreibt in seinem Buch „Nach der Stunde Null“, dass er in den Stadt- und Gemeindearchiven nur Entnazifizierungsvorgänge der Kategorieren III und IV, also der weniger Belasteten und Mitläufer, gefunden hat. Hat es in Oberberg denn gar keine echten Nazis gegeben?

In den Gemeindearchiven liegen nur Akten zur „Entnazisierung“ – so wurde das damals genannt – der eigenen Beschäftigten. Tatsächlich aber wurden nicht sehr viele als „schwer belastet“ eingestuft.

Wurde die gesamte Bevölkerung entnazifiziert?

Nein, höchstens zehn Prozent der männlichen Bevölkerung waren ja überhaupt in der Partei. Die wichtigen Leute in den Verwaltungen, Lehrer und ein Teil der Industriellen, die wichtige Funktionen innehatten, die wurden entnazifiziert. Carl Hugo Steinmüller zum Beispiel, der über Jahre die NSDAP finanziell unterstützt hatte und 1941 noch in die Partei eingetreten war. Oder die Volksschullehrer. Von denen waren 85 Prozent in der Partei.

Wurde streng geurteilt?

Nein, das lief in der Regel sehr schonend ab. So wurde Carl Hugo Steinmüller 1948 als entlastet eingestuft. Auch die Persilscheine, die die katholischen Pfarrer ausstellten, fielen wohlwollend aus. Selbst die Betriebsräte hatten ein Interesse daran, dass ihre Chefs im Zuge der Entnazifizierung ihr Vermögen nicht verloren. Sie fürchteten in diesem Fall um ihre Arbeitsplätze.

War diese Milde alternativlos, oder gab es Versäumnisse?

Das ist schwer zu beurteilen, denn das Verfahren bestand ja nur aus einer formalen Abfrage. Richtig aufgearbeitet wurde nichts. Die führenden Nazis hatten sich abgesetzt, die obersten Funktionsträger wurden ausgewechselt und interniert. In der Ebene darunter waren viele in der Partei, hatten sich aber nichts Nachweisbares zuschulden kommen lassen. Als zu viele Verwaltungsbeamte rausgeschmissen wurden, legte Landrat August Dresbach Einspruch ein. Er brauchte die Leute. Ohne sie hätte zum Beispiel die Lebensmittelverteilung nicht funktioniert. Viele haben nach außen die Demokraten gespielt, das genügte.

Hat diese Milde bei den Betroffenen zu einem Umdenken geführt?

Möglicherweise. Es gibt Untersuchungen in Norwegen, wo Anhänger des Dritten Reiches nach Kriegsende aus der Gesellschaft ausgegrenzt wurden. Die waren Jahrzehnte später noch Nazis. Keine glückliche Lösung war es allerdings, wenn der Sachbearbeiter, der über Entschädigungsanträge eines politisch Verfolgten zu entscheiden hatte, derselbe war, der im Krieg empfohlen hatte, auf Zwangsarbeiter bei Luftangriffen keine Rücksicht zu nehmen.

Hat es in Oberbergs Süden, in der von Robert Ley zum „Leyland“ umgepflügten Region, besonders viele Nazis gegeben?

Im Kreissüden gab es nicht wegen Ley so viele Nazis. Wie in vielen protestantisch-kleinbäuerlichen Gegenden in Deutschland war man hier anfällig für die NS-Ideologie. In der Aggerschiene dagegen gab es viel Industrie und viele Arbeiter, die waren den Nazis zunächst mehrheitlich nicht so sehr zugetan.

Was ist aus den NS-Führern geworden, also aus Kreisleiter Pieck und Landrat Pichier?

Sie wurden zunächst für längere Zeit interniert. Pichier hat noch eine Zeit lang in Gummersbach gewohnt und bekam eine Pension. Das war wie bei den Generälen: Wer nicht als Kriegsverbrecher aufgehängt wurde, bekam seine Pension. Die Opfer mussten dagegen nachweisen, dass sie mindestens ein halbes Jahr im KZ gesessen hatten, um eine Entschädigung zu bekommen. Das war ungerecht.

Hat es Fälle von ungerechtfertigter Entnazifizierung gegeben?

Das ist schwer zu beurteilen, ohne die Biografien der Menschen genau zu kennen. Es gibt keine Akten darüber. Ein Historiker darf sich nicht zum Richter aufspielen ohne Beweise.

Weiß man von oberbergischen Kriegsverbrechern oder von aktiv an der Judenvernichtung beteiligten Oberbergern?

Außer Robert Ley wüsste ich keinen. Es gab allerdings Fälle wie die Frau eines Kölner Amtsrichters, die 1943 in Eckenhagen Wilhelm Stodieck aushorchte und anzeigte. Weil der Frisör Zweifel am Endsieg geäußert hatte, wurde er im Oktober 1944 wegen Wehrkraftzersetzung hingerichtet. Gegen sie gab es nie ein Verfahren.

Andere wie der Jurist Heinz Billig waren keine Kriegsverbrecher, aber sie hatten auf Reichsebene wichtige Funktionen inne. Billig war Reichsgruppenverwalter und Führer der Jungjuristen im Reich; Hitler hatte ihn in die Akademie des Deutschen Rechts berufen. Er kehrte nach dem Krieg als Anwalt nach Gummersbach zurück und wurde nicht entnazifiziert.. Über seine Vergangenheit sprach man nicht; von 1964 bis 1975 war er sogar Bürgermeister in Gummersbach.

Wie verhielten sich die Menschen in Oberberg zur Entnazifizierung?

Bei der Mehrheit war die Aufarbeitung unerwünscht. Ein Drittel der Bevölkerung waren ohnehin Vertriebene oder Evakuierte. Die waren neu hier, die interessierte gar nicht, was in Oberberg passiert war. Viele andere spielten Demokraten, flüchteten sich in die Arbeit und den Wiederaufbau. Im Winter 1946/47 hungerten 80 Prozent der Menschen, die Kindersterblichkeit betrug 16 Prozent, der Oberbergische Kreis hatte in NRW prozentual die meisten Vertriebenen aufzunehmen. Der allgemeine Tenor war: Wir sind betrogen und missbraucht worden. Zum Glück hatten aber auch genügend überzeugte Demokraten den Krieg überlebt. Sie beteiligten sich maßgeblich am Aufbau der demokratischen Strukturen. Die eigentliche Aufarbeitung der NS-Zeit im Oberbergischen begann erst in den 1980er Jahren.

Wie ist Ihr Fazit zur Entnazifizierung?

Sie war ein untaugliches Mittel für eine echte Aufarbeitung. Sie hatte zwar Symbolkraft, aber eine detaillierte Einzelprüfung war nicht möglich.