Der rauchende SensenmannLeserin berichtet von einer unheimlichen Begegnung

Mit ihren Kindern hatte Monica Weispfennig 1977 auf dem Campingplatz von Novi Vinodolski, einer Stadt an der Adriaküste, ihre Zelte aufgeschlagen.
Copyright: Monica Weispfennig (Privat)
- Bei unserem Sommerwettbewerb „Mein schönstes Ferienerlebnis“ stellen wir gemeinsam mit der Volksbank Oberberg Menschen mit einem besonderen Ferienerlebnis vor.
- Heute geht es um einen Campingurlaub in Jugoslawien mit einem unheimlichen Besucher.
Gummersbach – Ein Geräusch lässt Monica Weispfennig Buchfeld und ihre Familie herumfahren. Mitten in dem verlassenen Dorf im Landesinneren von Jugoslawien eilt ein Mann im Laufschritt auf sie zu. In der rechten Hand schwingt er eine Sense, gibt unheimliche Laute von sich, zeigt wild gestikulierend auf das kleine Haus, in das Weispfennig und Familie gerade hineingeschaut haben. Dann entdeckt der aufgebrachte alte Mann Weispfennigs kleine Tochter, die hinter ihrem Rücken Schutz gesucht hat. Er macht einen Schritt auf sie zu. Der Gummersbacherin schaudert es.
Im Sommer 1977 hat Monica Weispfennig Buchfeld gemeinsam mit ihrem Mann, ihrer Tochter und drei Söhnen auf dem Campingplatz von Novi Vinodolski, einer Stadt an der Adriaküste, ihre Zelte aufgeschlagen. An diesem Tag bricht die Familie in das ehemalige Heimatdorf ihrer jugoslawischen Freunde auf. Freund Toni gibt ihnen noch einen Ratschlag mit auf den Weg: „Nichts anrühren im Dorf.“ Sie denken sich nichts dabei, schließlich ist der Ort seit etlichen Jahren verwaist. Nach vielen Kilometern nähern sich die Gummersbacher dem Dorf, entdecken einen Stein. Darin gehauen sind Namen und Jahreszahlen. Acht Frauen und 13 Kinder sind aufgelistet, die Älteste 45, die Jüngste eineinhalb. Die Inschrift besagt, dass alle am 14. Mai 1942 starben.

Monica Weispfennig Buchfeld erinnert sich an den Sommer 1977, als sie Jossip das erste Mal begegneten.
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Im Dorf angekommen, ist Weispfennig überrascht. Die Häuser sind in einem guten Zustand. Kommen die ehemaligen Bewohner regelmäßig zurück, um Sturm- und Winterschäden zu reparieren? Die Grasflächen am Wegesrand scheinen wie mit einem Rasenmäher geschnitten – wobei das wegen des überall hervorlugenden Gerölls nicht möglich ist. Weispfennigs Kinder gehen auf Erkundungstour. Als sie wieder auftauchen, müssen sie den Erwachsenen unbedingt ihre Entdeckung zeigen: An einem Haus ist die Tür offen, auf dem Küchentisch stehen ein Brotkorb und Becher, in denen noch Kaffee ist. Das ganze Haus scheint zu warten. Weispfennig ist nicht wohl in ihrer Haut. Sogar die Kinder müssen nicht extra aufgefordert werden, die Stube zu verlassen. Kaum ist die Familie draußen, taucht der Sensenmann auf.
Der rauchende Sensenmann
Als der bedrohlich wirkende Herr ihre kleine Tochter (2) erblickt und einen Schritt auf sie zumacht, bleibt Weispfennig beinahe das Herz stehen. Für einen winzigen Moment zuckt die Kleine zusammen – dann lächelt sie ihn an. Plötzlich legt sich seine Empörung und Wut, ein Lächeln verändert sein Gesicht. Er lacht. Die Gefahr ist vorbei.
Der Sensenmann nimmt die ihm angebotene Zigarette freundlich an und beginnt ohne Worte zu erzählen. Mit ausladenden Armbewegungen und pantomimischem Geschick berichtet der Mann, dass er es ist, der die Wegränder so exakt mäht – mit der Sense. Weispfennig und Familie zollen ihm ebenfalls mit Gesten Hochachtung. Nach einer Weile verabschieden sie sich, die Kleine dreht sich noch einige Male um und winkt ihrem „Sensenmann“ zu, wie sie ihn nennt. Zurück in Novi Vinodolski erfährt Weispfennig die Geschichte ihres neuen Bekannten.
Weg in den Wahnsinn
Im Mai 1942 griffen Partisanen eine kleine deutsche Einheit an und töteten drei Soldaten. Der deutsche Kommandant ließ daraufhin alle Bewohner des nächstliegenden Dorfes vernehmen – doch niemand machte Angaben zu den Rebellen. Der Kommandant stellte den Bewohnern ein Ultimatum, sagt Weispfennig: Entweder sie reden oder er werde so lange Frauen und Kinder töten lassen, bis er seine Information erhält. Trotzdem sagte niemand etwas. Das Töten begann. 13 Kinder und acht Frauen wurden an jenem 14. Mai 1942 ermordet – auch die Frau und die beiden Kinder, vier und eineinhalb Jahre alt, des Sensenmanns. Jetzt erfahren die Gummersbacher seinen Namen: Er heißt Jossip. An jenem Tag im Mai 1942 starb Jossip das erste Mal. Obwohl er die Leichen seiner Lieben sah, weigerte er sich, die Wirklichkeit anzuerkennen. „Er wählte den Weg in den Wahnsinn“, sagt Weispfennig. Mit dem Verstand verlor er auch die Sprache. In dem Dorf, das die anderen Bewohner Mitte der 1960er Jahre verließen, wartete Jossip auf die Rückkehr seiner Familie.
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In den folgenden Jahren kehren Weispfennig und Familie noch mehrmals an die jugoslawische Adria zurück. Sie erkundigen sich nach Jossip. „Unverändert“, heißt es. Als Mitte der 80er Jahre ehemalige Dorfbewohner beschließen, die alten Häuser zu renovieren, Straßen geteert und Leitungen verlegt werden, widersetzt sich Jossip den Veränderungen. Eines Tages stört er die angestrebte Idylle, verletzt einen Bauarbeiter mit der Sense. Eine Woche später holen sie ihn ab, sperren ihn in eine Anstalt – weit weg von seinem Dorf und der Hoffnung, dass seine Familie zurückkehrt. Dort stirbt er ein zweites Mal.
Weispfennig und Familie halten auch während des Krieges und Umbruchs in Jugoslawien den Kontakt zu ihren heute slowenischen Freunden. Die Nachricht erreicht sie 1997: Jossip ist zum dritten Mal gestorben. „Diesmal endgültig“, sagt Monica Weispfennig Buchfeld.