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Hartegasse„Nur noch ein Vorort von Lindlar“

Lesezeit 4 Minuten

Die Landstraße 284 durchschneidet Hartegasse, seit zehn  Jahren verliert der Ort kontinuierlich seine Nahversorgung.

Hartegasse – Ausgehen heißt zu Fuß gehen: Mal die fünf Kilometer bis Lindlar, mal die vier bis Frielingsdorf. Zumindest für die Jugendlichen ohne Auto in Hartegasse. Der letzte Bus der Linie 335 fährt um 20.30 Uhr von der Haltestelle am Ehrenmal ab. Aber nicht in den Ferien. „Hier gibt es abends keinen Treffpunkt, wo man hingehen kann“, sagt ein 17-Jähriger, der mit seiner gleichaltrigen Begleiterin unterwegs ist. Wenn Jugendliche etwas erleben wollen, gehen sie Fuß in den nächsten Ort. Meist durch den Wald. „An der Landstraße ist es nachts zu gefährlich“, fügt das Mädchen an.

Im Doppelort Hartegasse und Kapellensüng wohnen 1917 Menschen. Es gibt die Bäckerei Lenort, Metzger Kötter, und zwei Gasthäuser: Den Tix – der eigentlich „Zum musikalischen Wirt“ heißt – und die Gaststätte Sprenger-Roth. Dazu kommt eine Filiale der Kreissparkasse Köln (KSK), aber die wird nächstes Jahr schließen.

14 Vereine sind im Ort aktiv

 Die Türklingel in der Bäckerei von Thomas Lenort steht morgens nicht still. In der Nacht hat er ein Blech Weckmänner gebacken. Die sind schnell ausverkauft. Die Bäckerei läuft gut. „Das ist unsere Einkaufsmeile“, sagt Eva-Maria Schneider, die auf dem Weg zur Arbeit schnell noch Brötchen holt. Im Laden trifft sie ihre Bekannte Vera Eschbach: „Wir haben einen guten Bäcker und einen guten Metzger, das ist uns geblieben.“

Seit 2005 ist die Einwohnerzahl um ein halbes Prozent gestiegen. Im Gegensatz zur Bevölkerungszahl der Gesamtgemeinde, die in diesem Zeitraum um drei Prozent gesunken ist. Trotzdem hat der Ort Stück für Stück seiner Nahversorgung verloren. „Wir sind ein reines Wohngebiet mit schlechter öffentlicher Verkehrsanbindung“, formulierte es Bäckermeister Thomas Lenort vergangene Woche in einem Leserbrief an unsere Zeitung. Den Brief kennt fast jeder rechts und links der Landstraße, die Hartegasse durchschneidet.

Die roten Bremslichter am Heck des Audi-Kombis leuchten kurz auf, als der Fahrer am gelben Ortsschild auf die Bremse tippt. Zwischen dem Ortseingang und der Kurve am Ehrenmal ist die Landstraße schnurgerade. Im Stakkato folgen dem Audi Fahrzeuge aus Essen, Neuss und Mettmann. Viele Navigationssysteme leiten die Fahrer durch den Ort zur A 1 bei Remscheid. „Aber es hält kaum einer an“, sagt Claudia Lenort, die in der Bäckerei hinter dem Tresen steht. Nur am Wochenende, wenn Motorradfahrer hier Station machen.

Ein Grund für die Filialschließung dürfte sein, dass das klassische Schaltergeschäft – Geld abheben und einzahlen – bei fast allen Banken inzwischen automatisiert ist. Bundesweit geht die Zahl der Filialbesuche seit Jahren zurück. Von durchschnittlich drei Besuchen pro Kunde und Monat 1995 auf knapp einen Besuch 2010, so eine Studie des Kölner Icon-Instituts. Das bedeutet konkret, dass zwei Drittel der Kundenbesuche weggebrochen sind. „Parallel ist die Nutzung des Online-Bankings stark angestiegen“, sagt Christoph Hellmann, Sprecher der Kreissparkasse Köln.

„Das ist ein Schritt 40 Jahre zurück, dass die Sparkasse schließt“, stellt Günter Biernazek fest. Der 86-Jährige nimmt die Brötchentüte vom Tresen. „Anfang der 70er Jahre gab es schon mal den Sparkassenbus, der einmal in der Woche hier hielt“, erinnert er sich. An seinem Revers funkelt die Ehrennadel des SSV Süng.

14 Vereine sind im Ort aktiv. Auf der Erich-Tix-Sportanlage trainieren fast täglich Jugendmannschaften. Bürger- und Schützenverein laden jedes Jahr zu ihren Festen, der Kirchenchor zu Konzerten in St. Agatha und die Gemeinschaftsgrundschule feierte noch im Mai mit dem ganzen Dorf auf dem Schulhof. 2013 begehen die Hartegasser ihre 600-Jahr-Feier. Dazu wird ein Buch erscheinen, an dem bereits alle Vereine mitarbeiten.

Als die Volksbank schloss, gab es eine Demo

 Die Entwicklung in Hartegasse ist für den Lindlarer Quartiersmanager Tobias Meier nicht überraschend: „In der Gemeinde findet bei der Nahversorgung gerade ein Zentralisierungsprozess statt.“ Auch bei einem intakten Dorfleben, ziehe sich der Handel aus der Fläche zurück. Meier arbeitet deswegen vor allem an Konzepten der Mobilität „gerade für älteren Menschen, damit sie sich versorgen können“.

Als 2004 die Volksbank Wipperfürth-Lindlar ihre Filiale schloss, zogen Demonstranten vor die Bank. Der Bürgerverein sammelte Unterschriften. „Gebracht hat es nichts“, sagt der Vorsitzende Helmut Mertens. Eine Demo wird es vor der Kreissparkasse nicht geben. „Man muss sich damit abfinden“, hat er resigniert. „Wir sind doch nur noch ein Vorort von Lindlar, ein Schlafdorf.“