Weniger PraktikaOberberger Schüler haben kaum Möglichkeiten, Berufe kennenzulernen

Noah Michel (u.) hat im Waldbröler Bauhof Dirk Stoffels Team verstärkt.
Copyright: Dierke
Oberberg – Straßenwärter? Oder lieber Gärtner? Noch hat Noah Michel darauf keine Antwort. „Hauptsache, ich bin an der frischen Luft und kann mit meinen Händen arbeiten“, sagt der 16-Jährige. Immerhin ist der Realschüler aus Waldbröl dem künftigen Beruf gerade ein gutes Stück nähergekommen: Er gehört zu den wenigen Schülern in Oberberg, die ein Betriebspraktikum bekommen haben – trotz der Corona-Pandemie. Für eine Woche hat Noah im Bauhof der Stadt Waldbröl mitangepackt.
Vor und nach Ostern finden in der Regel solche Schnuppertage statt: Berufserkundung heißen die für die achte Jahrgangsstufe, in der Klasse 9 gibt es dann ein Praktikum, wie es Noah Michel absolviert hat. Doch weil nicht überall auf Abstand gearbeitet werden kann, haben viele Unternehmen und Institutionen diese Orientierungen abgesagt.
Verantwortung der Stadt
Nicht aber die Stadt Waldbröl. „Dort, wo es ohne eine Gefährdung geht, machen wir Praktika weiterhin möglich“, betont Ulrich Domke, zuständiger Fachbereichsleiter. Er sieht die Stadt in der Verantwortung, die jungen Leute zu unterstützen, sie an die Arbeitswelt heranzuführen – nicht nur wegen der ersten Erfahrungen in einem Berufsalltag. „Die Jugendlichen lernen, wie gute Umgangsformen die berufliche und menschliche Atmosphäre in einem Unternehmen, aber auch an jedem einzelnen Arbeitsplatz beeinflussen“, führt Domke aus.
Noch ist die Ausfallquote kaum abzuschätzen
Wie viele Praktikumsplätze bereits weggefallen sind oder im weiteren Verlauf des Jahres gar nicht erst angeboten werden, können auch Experten nicht beziffern. Für das Handwerk geht Katrin Rehse, Sprecherin der Kreishandwerkschaft Bergisches Land, von einer Ausfallquote von „mindestens 50, wenn nicht sogar 70 Prozent“ aus.
Ähnliches berichtet die Industrie- und Handelskammer zu Köln, wobei noch nicht alle Termine für dieses Jahr abgesagt worden seien, wie IHK-Sprecher Jörn Wenge erklärt. Er verweist auf die digitalen Medien, zum Beispiel auf den jüngsten Ausbildungslivestream der IHK: Darin berichte Fabian Döhl von seinen Erfahrungen in der Ausbildung bei Abus-Kransysteme in Gummersbach. Dort hat der 22-Jährige den Beruf des Konstruktionsmechanikers erlernt. Döhl gehört zu den 207 besten Absolventen bundesweit und wurde auch von Kanzlerin Angela Merkel beglückwünscht. Zudem rät IHK-Mann Wenge dazu, den Kontakt zu den Ausbildungsbotschaftern der Kammer aufzunehmen und diese zu einem virtuellen Gespräch einzuladen.
Unterstützung biete, so Wenger, auch das Team der „Beruflichen Bildungslotsen“: „Per Videokonferenz erreichten die drei im vergangenen Jahr an knapp 20 Schulen rund 700 Jugendliche ab der Klasse 9 und konnten mit ihnen über Karrierewege und Umsetzungsstrategien sprechen.“ Oft gehe es in diesen Runden auch um einen Einstieg ins Studium. „Viele Schüler beschäftigen sich gar nicht mit der Frage, was sie mit einer passenden dualen Ausbildung erreichen könnten“, erklärt Christopher Meier, Geschäftsführer Aus- und Weiterbildung. „Diese Option rückt erst nach einigen Semestern in den Blick, wenn die jungen Leute feststellen, dass ein Studium nicht das Richtige ist.“ Solche Umwege könnten durch eine frühere Berufsorientierung und Gespräche mit den Bildungslotsen vermieden werden.
Für Ende April plant die IHK einen virtuellen Abend, an dem sich Eltern über solche Themen informieren können. (höh)
23 von insgesamt 103 Jugendliche der bisherigen Jahrgangsstufe 9 an der Städtischen Realschule in der Marktstadt haben einen solchen Platz ergattert. „Die spätere Berufswahl ist eine große Herausforderung, die für diese Schüler nicht mehr weit weg ist“, sagt Gudrun Schulz – auch mit Blick auf nahende Bewerbungsfristen. Schulz koordiniert die Berufsorientierung an der Schule und freut sich, dass jene 23 Schüler eben im Bauhof, in einem Forstamt, bei einer Autowerkstatt, auf einem Pferdehof, im Handwerk und auch im Handel untergekommen sind.
Praktisches Erleben ist entscheidend
Dass so viele Schüler aber leer ausgegangen sind, das sei durchaus dramatisch, urteilt die Koordinatorin. „Das praktische Erleben ist bei der Wahl entscheidend. Denn es zeigt den Schülern, ob dieser Beruf der richtige sein könnte oder eben nicht.“ Dass er da auf der richtigen Fährte ist, ahnt Nikita Medvedev: Vor den Ferien hat der 16-Jährige von der Waldbröler Realschule im Bröler Werkstattbetrieb Boxengasse unter der Aufsicht von Ausbilder Piotr Kommanowicz gearbeitet. „Ich lerne viel mehr, kann die Motoren und Dinge in der Werkstatt anfassen. Das geht online nicht“, erzählt der Schüler und berichtet zudem von häufigen Problemen mit der Internetverbindung zu Hause.

In der „Boxengasse“ genau richtig: Realschüler Nikita Medvedev (o.) lernt von Piotr Kommanowicz erste Handgriffe.
Copyright: Dierke
Für seinen Chef auf Zeit, André Koslowski, ist ein solches Praktikum auch ein Schutz vor kostspieligen Fehlern: „Niemandem nutzt eine Ausbildung, wenn diese abgebrochen wird.“ So gehe es ihm und seinen Kollegen darum, ein genaues Bild von dem möglichen Beruf zu vermitteln, damit die Vorstellungen der jungen Leute zurechtzurücken und schließlich Unterstützung zu bieten bei dieser weitreichenden Entscheidung für die Zukunft. „Daher zeigen wir ihnen jede Station in unserer Werkstatt und lassen sie immer gewisse Arbeiten ausführen.“
Keine Möglichkeiten in sozialen Berufen
Das hätte auch Jürgen Greis gern gesehen. Doch der Leiter der Leonardo-da-Vinci-Sekundarschule in Morsbach hat sowohl für die achte als auch für die neunte Klasse alle Praktika abgesagt – aus Vorsicht, wie er betont. Allerdings habe sich den Schülern auch kaum Auswahl geboten: „In den sozialen Berufen oder in der Pflege war – verständlicherweise – kein einziges Praktikum zu bekommen“, bedauert Greis. Bei den Eltern stoße seine Absage nicht immer auf Verständnis, ergänzt der Schulleiter: „Sie sind sogar verärgert.“
Das könnte Sie auch interessieren:
Eine begrenzte Zahl an Praktikanten lässt derweil die Firma Kampf Schneid- und Wickeltechnik ins Werk. Allerdings setze man auch stark auf das Internet, erklärt in Wiehl-Mühlen Ausbildungsleiter Josef Stinner: „So geben wir Tipps zum Beispiel für Bewerbungsgespräche oder bereiten junge Leute auf den Einstellungstest vor.“ Und nicht nur das: Am „Girl’s Day/Boy’s Day“, dem 22. April, sollen die Jugendlichen an den Computerbildschirmen zu Hause Grundschaltungen aufbauen – aus Material, das ihnen Kampf zuvor zuschickt. „Andere Handgriffe aus der Elektrotechnik funktionieren im Internet aber nicht.“
Am 26. Juni plant der Oberbergische Kreis seine Studien- und Berufsorientierungsmesse „OBKarriere Plus“. Diese soll allerdings allein im Internet stattfinden.