Stöckchen statt PuppenWaldkindergarten in Gladbach war vor 25 Jahren der Erste

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Der AWO-Waldkindergarten in Bergisch Gladbach feiert 25-Jähriges.

Bergisch Gladbach – Der Gong ist das magische Signal. Wie auf ein geheimes Zeichen kommen aus allen Ecken des Waldes Kinder geflitzt. Anthony hat gerade noch mit einem Stock Löcher in den Boden gegraben, Ida und Merle haben Steine und Federn als Grabschmuck für eine tote Maus gesammelt. Doch wenn der Gong ertönt, ist Zeit für den gemeinsamen Morgenkreis. Und der findet – wie der gesamte Kindergartentag – draußen statt. Die Kinder sitzen auf rustikalen Holzbänken. Eine Art Pavillon bietet Schutz vor Sonne oder Regen.

AWO macht den Wald zum Kindergarten

„Manchmal fragen Besucher: Wo ist denn hier der Kindergarten?“, berichtet die Leiterin Andrea Bosbach. „Überall“, lautet dann ihre einfache Antwort. Hier gibt es keine Puppen, keinen Kaufladen, keine Bauklötze. Dafür Natur pur und unendlich viel zu entdecken.

Der Wald als Kindergarten, als Spielplatz, als natürlicher Ort des Lernens. Der von der Arbeiterwohlfahrt (Awo) betriebene Waldkindergarten Nußbaum im Begräbniswald feiert in diesem Jahr sein 25-jähriges Bestehen.

Vor 25 Jahren der Erste

Der Waldkindergarten Nußbaum im Begräbniswald wurde im Juni 1996 als erster Waldkindergarten in Nordrhein-Westfalen eröffnet – auf dem damals noch ungenutzten Gelände des Begräbniswaldes. 15 Kinder im Alter von 3 bis 6 Jahren werden hier täglich von 8.15 Uhr bis 13.45 Uhr von drei Erzieherinnen betreut.

Das große Jubiläumsfest musste coronabedingt ausfallen. Mittlerweile betreibt die Awo Rheinberg-Oberberg sechs Waldkindergärten.

„Am Anfang wurden wir von vielen skeptisch beäugt, galten als die Wilden“, erinnert sich Erzieherin Ilona Dieper, die seit dem Gründungsjahr zum Team gehört. Vorbehalten wie „lernen die Kinder hier denn, sich zu konzentrieren, still zu sitzen, Stift und Schere richtig zu halten?“ haben die drei Erzieherinnen eine Menge entgegenzusetzen: „Manche Kinder beobachten eine Ewigkeit Käfer, Ameisen, Bienen oder Vögel“, sagt Patricia Friedrich. „Oder sie kochen und backen mit Wasser und Matsch. Und verzieren ihre Torten mit winzigen Fichtennadeln – als Kerzen.

Das sind feinmotorische Meisterwerke“, schwärmt Ilona Dieper. Und wie in anderen Kindergärten auch würde gemalt und gebastelt, häufig mit Naturmaterialien.

Wald bietet besondere Bedingungen für Kitakinder

Der Wald bietet den Kindern Bedingungen, die klassische Kindergärten nicht haben. „Durch sein unterschiedliches Terrain ist der Wald eine natürliche Bewegungsschule. Motorisch lernen die Kinder hier viel automatisch“, sagt Andrea Bosbach.

„Es ist im Wald viel leiser als in Kitas mit geschlossenen Räumen. Das bringt mehr Ruhe und weniger Stress mit sich – auch für uns Erzieherinnen.“ Zudem sorgten die unterschiedlichen Jahreszeiten und Wetterlagen für ständige Abwechslung. „Die Kinder können genau beobachten, wie sich die Natur im Laufe des Jahres verändert und entwickeln ein genaues Temperaturempfinden.“

Denn die Drei- bis Sechsjährigen sind den ganzen Tag an der frischen Luft. Nur bei Sturm, Starkregen oder extremer Kälte dient ein ausgebauter, beheizbarer Bauwagen als Unterkunft.

Waldkita: Stöckchenschlucht oder Steinbruch?

Morgens stimmen die Kinder ab, welchen der rund 20 Spielorte sie an diesem Tag besuchen. Zur Wahl stehen etwa die Stöckchenschlucht, der Steinbruch, das (aus Ästen und Stöcken selbst gebaute) Boot, die Brücke am Bach oder die neue Kuhle.

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Ausgelassenes Toben auf der Wiese gehört beim AWO-Waldkindergarten dazu.

Und dann zieht die Gruppe mit Rucksäcken bepackt und einem Bollerwagen los. Der ist prall gefüllt: Mit Sitzkissen, einem Wasserkanister und Seife zum Händewaschen, Büchern, Schnitzmessern, Becherlupen, Seilen, einer mobilen Schaukel, Bestimmungsbüchern für Pflanzen und Tiere und natürlich einer Erste-Hilfe-Tasche.

Immer mit dabei sind auch Eimer und Müllzangen. Mit denen sammeln die Kinder Abfälle auf. „Der respektvolle Umgang mit der Natur und unserer Umwelt spielen in unserem Alltag eine wichtige Rolle“, sagt Ilona Dieper. Dazu gehöre es, Müll zu vermeiden, sparsam mit Wasser umzugehen und die Waldtiere nicht zu stören. Die Kinder pflanzen Blumen auf der Sonnenwiese und sehen zu, wie ihre Möhren und Radieschen im Hochbeet wachsen.

Spielen im Begräbniswald: ein Problem?

Dass die Kinder mitten im Begräbniswald spielen, stelle weder für die Kinder noch für die Angehörigen ein Problem dar. „Einige Bestatter beantworten den Kindern Fragen oder lassen sie in das Loch für die Urne schauen“, sagt Andrea Bosbach. So lernten die Kinder einen selbstverständlichen Umgang mit dem häufig tabuisierten Thema Tod. Wenn eine Beerdigung in der Nähe stattfinde, verhielten die Kinder sich von selbst leiser als sonst.

Kreativität und Phantasie sind im Wald keine Grenzen gesetzt: „Gerade weil es keine konventionellen Spielsachen gibt, wird die Phantasie der Kinder angeregt. Sie können ihre Ideen verwirklichen“, sagt Patricia Friedrich. Wer sich mit den Erzieherinnen unterhält, spürt die Begeisterung, mit der sie ihrem Beruf nachgehen. „Ich kann mir keinen besseren Arbeitsplatz als den Wald vorstellen“, sagt Leiterin Andrea Bosbach. Ihre eigenen Kinder waren im Waldkindergarten, als sie selbst noch als Sportlehrerin arbeitete. „Da habe ich mir schon gedacht: Irgendwann möchte ich hier arbeiten.“

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Nach einer Umschulung leitet die 53-Jährige nun seit drei Jahren die Einrichtung. „Wir sind eine familiäre Gemeinschaft“, sagt Ilona Dieper. „Es ist schön zu erleben, wie sich die Kinder bei uns entwickeln. Und inzwischen bringen die ersten Ehemaligen schon wieder ihre Kinder zu uns.“

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