„Schwerstarbeit, um zu überleben“Missbrauchsopfer gibt anderen Betroffenen in Odenthal Stimme

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Ein Kind sitzt auf dem Boden und drückt sein Gesicht in einen Teddy.

Die Opfer von sexualisierter Gewalt wollen mehr gehört werden. (Symbolbild)

Der Missbrauchsskandal in Odenthal hat Brigitte Marx schwer getroffen. Sie ist selbst Opfer von sexualisierter Gewalt – Täter waren zwar nicht Pfarrer, dennoch rückt sie die Perspektive der Opfer mehr in den Fokus. 

Brigitte Marx sagt, sie sei eine Überlebende. Viele Jahre hat sie geschwiegen über die Gewalt und den sexuellen Missbrauch, die ihr als Baby, als Kind, als Heranwachsende, als junge Frau in Familie und familiärem Umfeld angetan worden seien. Jetzt aber will sie reden. Darüber, wie es ist, ein Opfer zu sein.

In Odenthal, ihrem Geburtsort, an dem die Menschen in den vergangenen anderthalb Jahren die Erfahrung machen mussten, dass Missbrauch überall stattfinden kann. Mit Klaus Anders und Winfried Pilz wird hier gleich zwei – inzwischen verstorbenen – katholischen Priestern der Vorwurf gemacht, sexuelle Missbrauchstäter gewesen zu sein. Brigitte Marx will die Opferperspektive stärker in den Vordergrund rücken bei den Versuchen der Kirchengemeinde, das Thema zu bewältigen.

Marx initiierte in Odenthal einen Gesprächsabend, um die Opfersicht zu zeigen

Dazu bekommt sie an einem von ihr initiierten Gesprächsabend im Gemeindehaus von St. Pankratius Gelegenheit. Dabei spielt es für sie keine Rolle, dass sie nicht Opfer von einem der beiden beschuldigten Geistlichen geworden ist, sondern sich ihre Gewalt- und Missbrauchserfahrungen in anderen Lebensbereichen abgespielt hätten, erklärt Brigitte Marx.

Der Impuls, in der Kirchengemeinde St. Pankratius Odenthal über ihre Leidensgeschichte und den schweren Weg der Bewältigung zu sprechen, entstand, als die 59-Jährige von den Beschuldigungen gegen Pfarrer Anders erfuhr. „Das hat mich kalt erwischt“, sagt Brigitte Marx, die früher in der Kirchengemeinde aktiv war, mit Mann und ihren Kindern aber mittlerweile in Norddeutschland lebt.

Odenthalerin vertraute dem mutmaßlichen Missbrauchstäter

Sexuell missbraucht worden sei sie von dem Priester nicht, betont sie. Aber sie habe ihm vertraut. Er war jahrelang ihr Seelsorger, hat sie, die 15 Jahre lang als Lektorin in der Gemeinde tätig war, getraut, ihre Kinder getauft. Gute Erinnerungen für Brigitte Marx, die bis heute im Glauben tief verwurzelt ist und daraus Kraft zieht, auch wenn sie sich von der Amtskirche längst distanziert hat.

„Zum ersten Mal konnte ich spüren, wie verstörend es auf Außenstehende wirkt, von einer Täterschaft zu erfahren.“ Sie reiste zu Informationsveranstaltungen nach Altenberg und Odenthal, die die Kirche in der Folge anbot. „Ich wollte aufarbeiten, da wo meine Wurzeln sind“, erklärt Brigitte Marx. Statt dessen habe sie Wut darüber empfunden, wie eine verzweifelte Frau behandelt worden sei.

Die Angehörige eines Opfers habe von einer „Hexenjagd“ gesprochen, der sie ausgesetzt sei. Dies und eine weitere Veranstaltung, in der Missbrauch aus der Täterperspektive beschrieben worden sei, habe sie veranlasst, auch die Seite der Opfer darzustellen, ohne die das Bild nicht komplett sei.

Als meine missbräuchlichen Erfahrungen anfingen, war ich erst circa ein halbes Jahr alt
Brigitte Marx, Opfer von sexualisierter Gewalt

Zu zeigen, wie es ist, 20 Jahre Therapiearbeit zu leisten, „Schwerstarbeit, um zu überleben“, erklärt Marx. „Es braucht oft sehr lange, bis man sich seinen schmerzhaften Erfahrungen stellt“, sagt sie. Viele Erinnerungen an ihre Verletzungen, ihre Missbrauchs- und Gewalterfahrungen waren lange verschüttet, abgekapselt in ihrem Inneren, damit ein Weiterleben überhaupt möglich war.

Heute wisse sie, dass es in ihrem Leben emotionalen, körperlichen, rituellen, seelischen, sexuellen und verbalen Missbrauch durch mehrere Täter und Täterinnen gegeben habe. „Dagegen konnte ich mich kaum wehren, denn als meine missbräuchlichen Erfahrungen anfingen, war ich erst circa ein halbes Jahr alt.“

Dabei geht es ihr nicht um Anklage schon gar nicht um Rache. Es geht ihr darum, gehört und mit all ihrem Leid als Opfer wahrgenommen zu werden. Es fühle sich an, als müssten sich überlagernde Erdschichten freigelegt werden, erklärt sie den schmerzhaften Weg der Therapie.

Missbrauch hatte auch schwere psychische Folgen

Immer wieder Rückschläge, Zusammenbrüche, irgendwann konnte sie wegen der psychosomatischen Folgen ihren Beruf nicht mehr ausüben. Heute bezieht sie eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Wenn ihre Fragen ins Leere gingen und auch nahestehende Angehörige nichts wahrhaben wollten, sich ins „Nein, so etwas hat es bei uns nicht gegeben!“ flüchteten, dann brauche es viel Zeit, Mut und Kraft.

Unterstützung habe sie beim Verein „Frauen helfen Frauen“ in Bergisch Gladbach erhalten. Sie sei Pfarrer Thomas Taxacher dankbar, dass sie ihre Geschichte erzählen durfte und biete dies auch weiter an. „Die Klagemauer einreißen“, nennt sie es. Doch nicht jeder wolle das hören, sagt sie und spricht von Widerständen auch einiger Kirchenmitglieder im Vorfeld des Termins. Nicht viele seien schließlich zu ihrem Vortrag im Pfarrsaal gekommen.

Thema Missbrauch soll in Odenthal nicht in Vergessenheit geraten

Es zeige, dass Odenthal immer noch funktioniere wie vor Jahrzehnten, meint Brigitte Marx: „Deckel zu und Ende.“ Statt einer Auseinandersetzung mit dem Thema seien „wilde Vermutungen“ über die Täter in ihrem Umfeld angestellt worden, die jeder Wahrheit entbehrten, so Brigitte Marx. „Wir wollen das Thema wach halten“, sagt Pfarrer Taxacher über den moderierten Abend, der zu intensiven Gesprächen geführt habe.

Zweimal im Jahr solle es Veranstaltungen zum Themenkomplex des Missbrauchs geben, kündigt er an. Ganz wichtig sei zudem das Schutzkonzept, das man mit Gruppen der Gemeinde gemeinsam erstelle, um Gefahren zu erkennen und zu beseitigen, gut hinzuschauen und hinzuhören.

Taxacher: „Wir wollen Beschützer von Schutzbefohlenen sein.“ Auch von ihrem persönlichen Leid, davon ist Brigitte Marx inzwischen überzeugt, hätten mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit einige Familienmitglieder, Nachbarn, Lehrer gewusst, geahnt ... und doch geschwiegen.


Hilfe und Beratung Opfer von sexualisierter Gewalt und ihr Umfeld können sich an verschiedene Stellen wenden, um Hilfe zu bekommen. In Rhein-Berg können Betroffene u.a. das Hilfe-Telefon unter der Nummer 08000 116 016 anrufen und sich persönlich oder online an die Frauenberatungsstelle in Bergisch Gladbach wenden. Die Beratungen sind vertraulich und kostenfrei.

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