Selten zuvor beteiligten sich so viele Menschen an der Gedenkveranstaltung zum 9. November.
Eindringliche Appelle300 Menschen gedenken in Erftstadt der Pogromnacht
Wie in vielen Kommunen des Rhein-Erft-Kreises erinnerten in Erftstadt Menschen an die Schrecken der Pogromnacht vor 85 Jahren. Mehr als 300 Menschen zogen in Lechenich in einem Schweigegang durch den Ort.
Zum 30. Mal hatte der ökumenische Ausschuss der evangelischen Kirchengemeinde und der Pfarrgemeinde St. Kiliandazu eingeladen. Am alten Judenfriedhof an der Weltersmühle entzündeten die Teilnehmer der angemeldeten Demonstration rund um Versammlungsleiter Hermann Göhring Kerzen für den rund zweistündigen Umzug durch den Ort mit Stationen auf dem Marktplatz, der Judengasse und dem neuen Judenfriedhof.
Pfarrerin Sabine Pankok zeigte sich froh, dass so viele gekommen waren: „Wir dürfen nicht den anderen die Straße überlassen.“ Zum Gedenken an die Gräueltaten der Nazis an jüdischen Mitbürgern und Mitbürgerinnen, die mit der Pogromnacht ihren Anfang genommen hatten, seien sie zusammen gekommen, so die Pfarrerin. Nie habe sie gedacht, dass es so weit kommen würde, wie gerade in diesen Tagen: Nach dem Angriff der Hamas auf Israel fürchteten Menschen jüdischen Glaubens um ihre Unversehrtheit. „Das ist unerträglich und in keiner Weise hinzunehmen“, sagte Pankok.
Bürgermeisterin Carolin Weitzel mahnte: „Das düsterste Kapitel unserer Geschichte, der Nationalsozialismus, verpflichtet uns zur Solidarität mit dem Staate Israel, der zum Schutz jüdischer Menschen, ihrer Religion und Kultur gegründet wurde.“ Kritik auch an Israel sah sie als Grundrecht an; bei Hass, Gewalt und Antisemitismus aber ende die Toleranz.
Angeführt von Schülern des Gymnasiums mit Transparenten gegen Fremdenhass und Vergessen zog die Versammlung zum Marktplatz. Dort schilderten die Schülerinnen Eva Faßbender, Nele Höferkes und Vania Mund in einer gemeinsam entwickelten Rede von der alltäglichen Verharmlosung durch banalisierenden Umgang mit Nazisymbolen in den sozialen Medien oder den stillen Zeugen des Terrors, bei einem Besuch des Konzentrationslagers Auschwitz. „Kratzspuren der Verzweiflung im Beton“ oder „Hügel im Wald, unter denen die Asche der ermordeten Opfer begraben ist“, hatte Nele Höferkes dort gesehen. Mehr junge Leute im Schweigegang als noch vor sieben oder acht Jahren beobachtete die Lehrerin Anke Jurgeleit.
In der Judengasse, mit Schule und Synagoge der Mittelpunkt jüdischen Lebens in Lechenich, sei davon heute nichts mehr zu sehen, bemerkte Cornelius Bormann an der nächsten Etappe. Er erinnerte beispielhaft an Moses Müller, dessen Söhnen zumindest die Flucht in die USA gelungen war, oder an die Schneiderin Else Vos.
Teilnehmer verlasen die Namen von 29 Jüdinnen und Juden, die in Stolpersteinen vor ihren ehemaligen Wohnstätten dokumentiert sind. Die Zahl der verschleppten und ermordeten Juden im ländlichen Raum des heutigen Rhein-Erft-Kreises schätzte Cornelius Bormann auf 4000.
Hubert Schröder spielte auf der Klarinette eine anrührende Melodie – das traditionelle jüdische Lied „Jerusalem, Stadt aus Gold“.
Die ehemalige Gymnasiastin Johanna Flügge und der Lehrer Jochen Schindler beendeten mit nachdenklichen Reden über aktuelle politische Entwicklungen den Schweigegang auf dem neuen Judenfriedhof, Am Römerweg. Der Friedhof ist für eine Woche lang tagsüber für Besucher zugänglich.