„Mein schönster Tag“Die Umarmung, die er noch heute spürt

Joachim Radike hat nochmals seine alte Polizeiuniform angezogen und sich an die Straßenkreuzung gestellt, an der er das Mädchen vor rund neun Jahren das erste Mal traf.
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Kerpen – Es war kalt an diesem Tag im Jahr 1995. Joachim Radikes Atem kondensierte, als er mal wieder an der Ecke Hahnenstraße/Bachstraße stand. Auf die Ampel, die dort steht, hatte der Polizist schon lange ein wachsames Auge geworfen. Immer wieder zog es ihn kurz vor Schulbeginn dort hin, um nach dem Rechten zu schauen. An diesem Morgen zog er seine Uniformjacke etwas enger zu und schlug den Schal nach hinten.. Die Kälte kroch ihm in die Kleidung. Da ahnte er noch nicht, dass er gleich eine Begegnung mit einem kleinen Mädchen bevorstand, die ihn noch mehr frösteln lassen sollte.
Joachim Radike war Polizist aus Leidenschaft. „Dorf-Sheriff“, sagt er. Er kannte sein Kerpen wie seine Westentasche. Wer mit wem verwandt ist, wer welchen Spitznamen hat, wo die dunkelsten Hinterhöfe sind – ihm konnte keiner etwas vormachen. Alle kannten ihn und er kannte alle. „Nur einmal in meiner Laufbahn habe ich einen Fehler gemacht“, sagt er. Da hat er sich von der Kripo abwerben lassen. Als er da so am Schreibtisch saß, vermisste er ganz schnell seinen Sprengel. Schmerzlich. Radike setzte Himmel und Hölle in Bewegung, um wieder in sein Revier zurückkehren zu können. So konnte er dann doch noch 1999 als „Dorf-Sheriff“ von Kerpen in den Ruhestand gehen.
Viel könnte er erzählen über das, was er so alles auf den Straßen von Kerpen erlebt hat. Was ist nicht alles passiert in diesen Jahrzehnten. Doch die Ereignisse an diesem Wintertag im Jahr 1995, die ragen dennoch aus dem Berg von Erlebnissen heraus. Die bewegen ihn noch heute tief.
Wie gesagt, Joachim Radike stand an diesem Morgen an der Kreuzung Hahnenstraße/Bachstraße. Die Fußgängerampel hatte er fest im Blick. Die sogenannte Bedarfsampel wurde nämlich von Kindern genutzt, die auf dem Weg zur Grundschule waren. „Oft hatte ich schon beobachtet, dass Autofahrer dort zu schnell unterwegs waren. Und einige von ihnen fuhren sogar bei Rot.“ Doch an diesem Morgen sollte es nicht der Verkehr sein, der seine Aufmerksamkeit in Anspruch nahm. Es war vielmehr ein kleines Mädchen. „Ich sah schon von weitem, dass ihr kleiner Mantel offen stand und dachte mir nur: Was kommt denn da für ein armes Geschöpf.“ Als das Mädchen näher kam, bewahrheiteten sich seine schlimmsten Befürchtungen. Selbst das kleine rosa Hemdchen des Mädchens war nicht richtig geschlossen. „Sie hatte eine Rotznase und war vollständig durchgefroren.“ Ein erbärmlicher Anblick. Joachim Radike sprach das Mädchen an.
„Deine Mama hat dich heute morgen aber nicht gut angezogen“, sagt er. Sie habe sich selbst angezogen, antwortete das kleine Mädchen. Ihre Mama wecke sie immer nur und lege sich dann wieder hin. Joachim Radike wurde es schwer ums Herz. Er knöpfte Hemd und Mantel des Mädchens zu und legte ihr seinen Schal um den Hals. „Hast du denn schon gefrühstückt?“, fragte er. Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Komm, ich fahre dich zur Schule“, sagte der Dorf-Sheriff. Auf dem Weg dorthin machte er erst einmal an einer Bäckerei halt. Ein belegtes Brötchen und ein Kakao. Das kleine Mädchen aß mit Heißhunger.
Joachim Radike dachte darüber nach, ob er die Lehrer informieren sollte. Doch die Geschichte ging ihm so ans Herz, er wollte sich selber kümmern. Er fragte das Mädchen nach ihrer Adresse und stattete der Mutter umgehend einen Besuch ab.
„Die war sichtlich erschrocken, als sie die Tür öffnete und ein Polizist vor ihr stand“, erinnert er sich. „Ich habe der Frau eindrücklich die Konsequenzen ihres Handels klargemacht.“ Wenn er das Mädchen nochmals so antreffen sollte, werde er das Jugendamt einschalten. Das werde auch für sie, die Mutter, nicht folgenlos bleiben. „Ich hatte den Eindruck, meine Ansprache, die zeigte Wirkung.“
Am folgenden Tag stand Joachim Radike wieder an der Ampel. Wie immer beobachtete er den Verkehr, wartete darauf, dass ein Autofahrer vielleicht über Rot fahren würde. Nein, stimmt nicht. Es sah nur so aus, als würde er sich um den Verkehr kümmern. In Wirklichkeit wartete er auf das Mädchen. Hatte er alles richtig gemacht? Hätte er vielleicht doch die Lehrer informieren sollen oder gar das Jugendamt? Die Minuten wurden ihm zu Stunden. Die Nervosität stieg.
Dann, endlich, sah er das Mädchen. Sie hatte eine Freundin dabei. Als sie den Schutzmann entdeckte, schnappte sie sich die Hand des anderen Mädchens und eilte auf ihn zu. Was dann passierte, das bewegt Joachim Radike bis heute tief. Jetzt, als er alles nochmals Revue passieren lässt, kann er seine Emotionen nur schwer verbergen. „Sie schlang ihre kleinen Ärmchen um mich herum, drückte mich ganz fest an sich und sagte zu ihrer Freundin: ,Das ist mein bester Freund’. Joachim Radike muss schlucken. „Es ist, als würde ich die Umarmung noch heute spüren. Die Kleine hat mich wirklich mit all ihrer Kraft umschlungen. Das ist mir sehr nahe gegangen“, sagt er mit belegter Stimme. Soviel er auch erlebt hat: „Das war für mich der schönste Tag, den ich im Dienst erlebt habe.“
Er hat das Mädchen noch oft an der Ampel getroffen. Am Zustand des Kindes hatte er nie mehr etwas auszusetzen.