Trotz QuerschnittslähmungMichael Steinmetz kann dank Exoskelett wieder laufen

Michael Steinmetz mit seinem Exoskelett
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Im Kinderbuchklassiker „Heidi“ scheint die Lösung so radikal wie einfach: der eifersüchtige Peter lässt den Rollstuhl von Heidis Freundin Klara wutentbrannt den Berg herunterrollen, so dass dieser zerschellt. Klara, die auf ihren Rollstuhl angewiesen war, wird durch Peters folgenreichen Wutanfall gezwungen, ohne das Hilfsmittel zurecht zu kommen. Am Ende kann sie wieder laufen.
Aber gibt es - jenseits der Fiktion - Möglichkeiten, gelähmte Menschen im wahrsten Sinne wieder auf die Beine zu bringen? In Deutschland leben rund 140 000 Menschen mit einer Querschnittlähmung, ihr Rückenmark ist teilweise oder vollständig durchtrennt. Einer von ihnen ist Michael Steinmetz. Seit einem Infektionsschaden im Jahr 2007 spürt er ab dem Bauchnabel abwärts außer gelegentlich auftretenden Schmerzen nichts mehr.
Ungewöhnlicher Anblick
In seinem Heimatdorf, dem Bergischen Untereschbach, wundert sich dennoch niemand, wenn der 60-Jährige aufrecht durch die Straßen geht. „Inzwischen ist das hier nichts Besonderes mehr“, erzählt der Rheinländer lächelnd. Dabei ist der Anblick tatsächlich ungewöhnlich. Der Gang von Michael Steinmetz hat etwas Roboterhaftes: ein leises, surrendes Motorengeräusch bei jedem Schritt, breite schwarze Gurte um Hüfte und Beine, zusätzlich Gehstützen. Aber: Michael Steinmetz läuft.

Dr. Mirko Aach ist am Uniklinikum Bergmannsheil Bochum Experte für Rückenmarkverletzungen.
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Seit dem Jahr 2015 besitzt er ein Exoskelett, eine am Körper tragbare Stützstruktur, eine Art Lauf-Roboter zum Anziehen. Darauf aufmerksam wurde er durch den Landschaftsverband Rheinland (LVR). „An Aschermittwoch habe ich mit meinem Sachbearbeiter beim LVR telefoniert und wollte neue Thrombosestrümpfe bestellen, da sagt er, gut, dass wir sprechen, es gibt etwas Neues, wäre das was für Sie?“, erinnert sich Michael Steinmetz.
„Um wieder ein Glas Kölsch im Stehen zu trinken, hätte ich alles getan“
Er musste nicht lange nachdenken. „Für die Aussicht, wieder ein Glas Kölsch im Stehen an der Theke zu trinken, hätte ich alles getan“, sagt er und lacht. Zwei Wochen später hatte er einen Termin bei Rewalk, einem der Hersteller von Exoskeletten. Wenn man ihn fragt, was es für ein Gefühl war, zum ersten Mal wieder aufrecht zu gehen, klingt seine Stimme heute noch belegt: „Ich habe geweint.“ Es dauerte allerdings lange, bis er das Gerät sicher bedienen konnte, mindestens drei Monate Training mit einem speziell ausgebildeten Physiotherapeuten ist Pflicht.
Ein besonderes Glück: Michael Steinmetz Tochter konnte als Physiotherapeutin das Training übernehmen. „Ohne sie hätte ich es nicht geschafft, es war hart“, gibt der Versicherungsmakler zu. Für ihn hat sich die Anstrengung gelohnt. „Trotz Pflegestufe 3 arbeite ich 40 Stunden in der Woche. Das Exoskelett hat mich aus einem tiefen Loch geholt, mein Gesundheitszustand hat sich verbessert, ich fahre wieder in Urlaub und habe 17 Kilogramm abgenommen.“
Selbst Treppenstufen kein Hindernis mehr
Seinen Rollstuhl nutzt Steinmetz nach wie vor, das Exoskelett, das er auf den Namen Gustav Gans getauft hat, zieht er sich aber jeden Tag an und läuft, selbst Treppenstufen sind kein Hindernis mehr, wenn eine Begleitperson dabei ist. Im Jahr 2016 konnte er seine Tochter im Gehen zum Traualtar führen. Auch im Job mache es einen großen Unterschied. „Vom Rollstuhl aus habe ich acht Jahre lang nach oben geguckt. Es verhandelt sich einfach deutlich besser auf Augenhöhe.“
Was für den einzelnen Menschen ein Segen und ein neues Lebensgefühl bedeuten kann, sieht PD Dr. Mirko Aach, Leitender Arzt der Abteilung für Rückenmarkverletzte der Chirurgischen Universitätsklinik und Poliklinik Bergmannsheil in Bochum, nicht nur positiv. „In Bezug auf therapeutische Zwecke halte ich viel von Exoskeletten“, so der Arzt, der seit einem Sportunfall selbst querschnittgelähmt ist und im Rollstuhl sitzt.
Selbstständiges Gehen kann wieder erlernt werden
„Sind noch Restfunktionen der Nerven im Rückenmark vorhanden, ist es möglich, dass Patienten durch Exoskelette wieder selbstständiges Gehen erlernen können.“ Auch der Kreislauf könne trainiert oder der Urinabfluss verbessert werden. „In therapeutischen Einrichtungen machen sie absolut Sinn. Für den privaten Gebrauch halte ich davon hingegen nichts.“ Arme und Schultern würden durch Exoskelette übermäßig belastet, von einem physiologischen Gehen könne keine Rede sein. „Es ist ein gegangen werden. Exoskelette sind auch keine neue Erfindung, es gab sie schon in den 1960er Jahren, sehr viel verändert haben sie sich seither nicht.“
Auch das Argument der Augenhöhe lässt Dr. Aach nicht gelten. „Dann sollen die anderen sich eben hinsetzen. Ich selbst habe wirklich kein Problem damit.“ Was ihn zusätzlich an den Geräten stört, sind die hohen Kosten, die seiner Meinung nach sinnvoller verwendet werden könnten. Die Exoskelette der Firma Rewalk, die seit dem Jahr 2018 im Hilfsmittelverzeichnis gelistet sind, kosten bis zu 100 000 Euro. „Wenn Aktiv-Rollstühle, in denen ich die Arme frei habe und mich sehr agil bewegen kann, von Kostenträgern nicht übernommen werden, aber Exoskelette, die ein Vielfaches kosten, schon, dann finde ich das unverständlich“, so der Mediziner.
„Mit der Einschränkung gut leben können“
Dass schwere Rückenmarkverletzungen in nächster Zeit geheilt werden können, hält Dr. Mirko Aach für unwahrscheinlich. „Ich denke, das werden wir nicht erleben.“ Vielversprechend sieht er Ansätze mit Elektrostimulation der Muskeln. „In Lausanne gibt es dazu ein hochinteressantes Forschungsprojekt, Elektroden im Körper stimulieren die Nervenwurzeln, so wird die Muskelfunktion generiert. Vorstellbar ist auch, dass es irgendwann weiche Materialien, also Textilien geben wird, mit denen Menschen wieder laufen können.“
Allerdings erlebe er in der Praxis, dass es Menschen mit einer Querschnittlähmung gar nicht unbedingt darum geht, wieder laufen zu können. „Natürlich gibt es diesen biblischen Traum, dass Gelähmte wieder gehen können. Ich sehe aber bei meinen Patienten, dass es ihnen vor allem wichtig ist, mit der Einschränkung gut leben zu können, sie wollen zum Beispiel eine funktionierende Blasen- und Darmfunktion“, erklärt PD Dr. Mirko Aach und fügt hinzu: „Grundsätzlich bin ich der Meinung, dass nicht das Nicht-Gehen-Können ein Problem ist, sondern die oft nicht ausreichend vorhandene Barrierefreiheit.“