Fußball-WMKatar, das Ende eines Zaubers  – eine persönliche Abrechnung

Lesezeit 6 Minuten
15.11.2022, Doha Katar Fans aus Argentinien schauen auf das Stadion 974 in Doha. Moritz Müller

Argentinische Fans vor dem Stadion von Doha kurz vor dem Beginn des WM-Turniers

Die 22. Auflage der Fußball-Weltmeisterschaft ist zweifellos die umstrittenste. Unser Autor hat alles versucht, aber dieses Turnier kann er nicht mehr mit Begeisterung verfolgen. Die Geschichte einer Entfremdung.

Sonntag, Anpfiff. Die Stadien funkeln in der Sonne. Der Kader, ist er gut besetzt? Gut genug? Egal. Der letzte Test, die Trikots der Teams. Egal. Das Logo und das Maskottchen – alles egal. Es ist also tatsächlich passiert. Ein WM-Turnier beginnt, es ist bereits Herbst, und zum ersten Mal im Leben ist es schwer bis unmöglich, Interesse für dieses Treffen der Weltbesten aufzubringen. Selbst Ärger und Wut sind 12 Jahre nach der irrwitzigen Vergabe an den Wüstenstaat Katar aufgebraucht. Wie konnte es nur soweit kommen?

Fußball ist bekanntlich die schönste Nebensache der Welt, und eine WM dabei die Hauptsache. Das allererste WM-Finale ist mir nur noch verschwommen im Kopf. Man trug breite Hemdkragen und leuchtendes Gelb, Schlaghosen, es wurde viel geraucht in diesem ’74er Sommer. Gerd Müller schoss am Ende ins Tor, so dass Deutschland 2:1 gewann. Ich war fünf Jahre alt. Die Messlatte lag hoch.

Vier Jahre, ein fast sakral anmutender Zeitabstand

Für jeden kleinen Jungen (ja, auch für viele Mädchen) geht von diesem Wettkampf ein mächtiger Zauber aus. Und wer ihn spürt, der kommt nicht mehr davon los. Gibt es ein anderes Ereignis, das die Kraft hat, über einen Monat alles andere zu banalisieren, einen eigenen Terminplan zu schreiben, dem sich lästige Pflichten wie Geldverdienen, Schwiegereltern besuchen oder Wäsche aufhängen unterzuordnen haben? Ist es normal, zwei Tage vor dem Viertelfinale unruhig zu schlafen? Die erste Elf von Costa Rica auswendig zu können? Immer in dem Wissen, dass es auf der anderen Seite der Weltkugel sehr vielen ebenso geht.

Eine Weltmeisterschaft ist etwas sehr Kostbares. Ein großes Spiel bei diesem Turnier wird in den Geschichtsbüchern verewigt: das dritte Tor von Wembley 1966, das Halbfinale gegen Italien in Mexiko vier Jahre später, Maradonas Hand, Brehmes Elfmeter, Schweinsteigers blutende Wunde und so weiter. Und natürlich Belo Horizonte, das 7:1 gegen Brasilien, als wir die Kinder mitten in der Nacht weckten, weil etwas nie Dagewesenes passierte. Keiner kann so ein Spiel je vergessen. Wie heute wohl der brasilianische Junge aussieht, der vor acht Jahren so bitterlich in die Kameras geweint hat?

Diesen Zauber kann das Turnier nur entfalten, weil die Termine rar gesetzt sind. Alle vier Jahre, das ist ein ehrfürchtig langer, fast sakral anmutender Abstand, der Raum für das Wachsen neuer Sehnsüchte lässt. Es soll Menschen geben, die rechnen sich in der zweiten Lebenshälfte aus, wie viele Turniere sie noch miterleben dürfen. Und nun Katar – was für ein schlimmer Verlust.

Geld regiert die Welt – und vor allem den Fußball

Die anderen Bewerber, die für diese WM zur so genannten Wahl standen, waren übrigens USA, Südkorea, Japan und Australien. Katar bekam 2010 bei der entscheidenden Abstimmung des Weltverbandes Fifa 14 von 24 Stimmen. Das war mal eine Sensation. Oder auch nicht. Ein Fußballfan war damals, vor zwölf Jahren, schon einiges gewöhnt. Die WM 2006 in Deutschland galt noch als unbeschmutztes Sommermärchen, doch der Schatten von Korruption hatte den Fußballsport längst erfasst. Die immer weiter steigenden Millionenbeträge waren und sind das Schmiermittel, das die Maschinerie immer schneller laufen lässt. Inter Mailand gewann 2010 mit 2:0 gegen den FC Bayern die Champions League. Das System war längst so angelegt, dass die Reichen in der Bel Etage des Weltfußballs (der europäisch geprägt ist) unter sich blieben. Messi wurde immer besser, Clubs wie der 1. FC Köln hatten mit all dem nichts zu tun. Ein kurzes Update: In diesem Jahr hat Bayern München allein als Startgeld in der Gruppenphase der Champions League 15,6 Millionen Euro bekommen und für die sechs locker eingespielten Siege nochmal 16,8 Millionen Euro obendrauf. 32 Millionen Euro, bevor es richtig ans Geldverdienen geht. Mit Zuschauereinnahmen und Werbeerlösen übersteigt der Finanzertrag des Aufgalopps den Etat des 1.FC Köln für die gesamte Saison. Nur: Bestand nicht die Grundidee dieses Sports einmal in einer gewissen Durchlässigkeit, dass eine sehr gute Mannschaft abstürzen und eine schlechte zu den großen Teams vorstoßen kann? Romantisch, oder?

Früher war auch nicht alles besser. Sicher nicht. Die Junta in Argentinien war 1978 Gastgeber. Dass Oppositionelle einfach verschwanden, wurde damals von keiner kritischen Öffentlichkeit hinterfragt, es gab sie gar nicht. Die Nationalspieler selbst äußerten sich bestenfalls naiv. Der deutsche Fußball in den 80er Jahren war grässlich, eine ästhetische Zumutung, was die Spieler mit dem Adler auf der Brust nicht daran hinderte zwei Mal ins Finale einzuziehen. Das Ausland hatte Respekt vor dem Turniercharakter des Teams oder – wie die Franzosen – schlicht sagten: „La Mannschaft“. Damit prägten sie ein Etikett, das 20 Jahre später von findigen Marketingexperten des Deutschen Fußball-Bundes zum Titel erhoben wurde. Und heute Symbol geworden ist für die Entfremdung zwischen Millionären auf dem Rasen und zahlendem Publikum. Der Namenszug ist eingemottet.

Ein Fan hat gelernt, sehr viel zu ertragen

Ein Fußballfan nimmt viel in Kauf, einfach, weil er diesem Sport nun mal verfallen ist. Er nimmt obszön hohe Gehälter und Ablösesummen hin, erträgt Sondertrikots zum Karneval oder zur Wiesn. Er kleidet sich in Freizeitjacken des Clubs und flötet jeden Slogan mit. Er zahlt für die Stadionwurst knapp fünf Euro, für Streamingdienste ein Vielfaches. Er fertigt Excel-Tabellen, um Übertragungszeiten und Sender im Blick zu behalten. So teuer ist ihm dieser Sport. Dass sich hinter den Vereinen aus Manchester, Mailand oder Paris Milliardäre, Oligarchen oder eben auch Staatskonzerne aus der Wüste verbergen, das hat er mühevoll ausgeblendet. Er hat sich wirklich Mühe gegeben.

Aber Katar ist nun einfach zu viel. Manch einer hält es für einen Fortschritt, dass niemand mehr ernsthaft behauptet, die WM könne helfen, die Menschenrechtslage oder die Benachteiligung der Frauen im Wüstenstaat zu verbessern. Zum Turnierstart hat Khalid Salman, WM-Botschafter des Gastgebers, Klartext gesprochen, als er Homosexualität als „geistigen Schaden“ bezeichnete. Fast muss man dankbar sein für so viel Offenheit. Mit Katar weiß jeder, woran er ist. Aber war Russland 2018 besser? Und was war mit den Olympischen Spielen in Peking, in einer Nation, die eine ethnische Minderheit wegsperrt und einlagert? Vielleicht ist es sogar so, dass der WM-Frust, den so viele verspüren, sich weniger aus der Entrüstung über die Menschenrechtsverletzungen und die kriminellen Arbeitsbedingungen speist. Vielleicht geht dem Fan einfach die Puste aus. Vielleicht hat er schon zu viel mitgemacht in den letzten Jahren. Die Welt zu Gast in der Wüste: So fußballverrückt kann keiner sein.