Vor genau 40 JahrenSo gelang dem VfL Gummersbach mit Heiner Brand der Europapokal-Triumph

Lesezeit 5 Minuten
Im Bild ist ein Menschenauflauf zu sehen, die Personen freuen sich und gratulieren einander. Mittendrin ist Handball-Legende Heiner Brand.

Noch auf dem Spielfeld nahm Heiner Brand die Glückwünsche der 12 000 mitgereisten Gummersbacher Fans entgegen.

Am 1. Mai 1983 krönte der VfL Gummersbach eine perfekte Saison mit dem Titel der Landesmeister. 

Der Lärm der Druckluftfanfaren und die rhythmischen „Vau-Eff-Ell“-Rufe verstummten nur für den Countdown: Die 12 000 Zuschauer in der Dortmunder Westfalenhalle zählten die letzten Sekunden herunter und stürmten mit der Schlusssirene das Spielfeld, auf dem Erhard Wunderlich den Ball in Richtung Hallendecke schleuderte. Der VfL Gummersbach hatte es am 1. Mai 1983 tatsächlich geschafft: Nach einem spannenden Finale – damals noch mit Hin- und Rückspiel – gegen den Favoriten ZSKA Moskau wanderte der Europapokal der Landesmeister zum fünften Mal in die Vitrine der Oberberger.

Umringt von Fans, Fotografen und Journalisten reckte Kapitän Heiner Brand den Siegerpokal in die Luft. „Ich bin fix und fertig“, bekannte Rückraum-Star „Sepp“ Wunderlich in einem ersten Interview, „aber für mich ist es das Schönste, was ich seit der Weltmeisterschaft erlebt habe.“ Torhüter Andreas Thiel wurde emotionaler: „Ich bin wahnsinnig glücklich, dass wir das Ding geholt haben heute!“, rief der „Hexer“ ins Mikrofon des Reporters.

Gummersbach profitierte von der Auswärtstorregel

Dabei wäre der Traum vom fünften Landesmeister-Titel beinahe schon im Viertelfinale geplatzt: Gegen Dukla Prag hatte sich der VfL nur aufgrund der Auswärtstorregel durchgesetzt. „Dukla hat uns im Jahr danach rausgeworfen und den Wettbewerb gewonnen“, erinnert sich Thiel heute. Im Halbfinale zog dann der FC Barcelona gegen starke Gummersbacher den Kürzeren. „Da hat uns der Sepp durchgetragen“, sagt Thiel mit Blick auf den 2012 verstorbenen Wunderlich, der im Heimspiel gegen die Katalanen 13 der 21 VfL-Treffer erzielte.

„Wunderlich war 1983 durch die WM-Vorbereitung mit der Nationalmannschaft in sehr guter körperlicher Verfassung, das war bei ihm nicht immer so“, beschreibt Brand den „absoluten Ausnahmespieler“. Nur seine Abwehraufgaben erledigte der 2,04-Meter-Hüne, später zum „Handballer des Jahrhunderts“ gewählt, eher widerwillig: „Wir haben ihn in der Deckung auf Außen gestellt, das war nicht so sein Ding“, sagt Brand lachend. Sogar als „unterirdisch“ hat Thiel die Abwehrqualitäten seines eigenwilligen Teamkollegen in Erinnerung.

Auf Wunderlichs Offensivkünste jedoch konnte der VfL gegen Moskau mit der halben sowjetischen Weltmeistermannschaft nicht verzichten. „Wir sind mit der Erwartung nach Moskau geflogen, dass uns alles bis zu fünf Toren Rückstand noch eine volle Westfalenhalle im Rückspiel garantiert“, verrät Thiel. „Die hatten zuvor ihre Heimspiele immer hoch gewonnen“, ergänzt Brand. Doch die Partie im ZSKA-Sportpalast am 24. April endet mit einer „Sensation“, wie Brand es nennt: Dank eines völlig unerwarteten 19:15-Sieges, zu dem Frank Dammann fünf Treffer beisteuert, erarbeiten sich die Gäste eine exzellente Ausgangsposition. „In der Halle konnte man die Gummersbacher Zuschauer raushören. Das war vielleicht unser kleiner Vorteil“, berichtet das einstige Abwehr-Ass Brand. „Wir hatten auch Schwein, dass ein paar Bälle für uns abgeprallt sind“, meint Thiel, der unglaubliche vier Siebenmeter abwehrt.

Der Vier-Tore-Vorsprung, damals noch deutlich mehr wert als im modernen Handball, beruhigt die Gummersbacher Nerven allerdings nicht – im Gegenteil: „Da besteht die Gefahr, dass man davon ausgeht, man hätte es schon geschafft. Das Rückspiel war eine Nervenaufgabe“, sagt Brand. „Ich war schon zwei Tage vor dem Rückspiel unglaublich nervös“, erinnert sich Thiel. „Ich dachte: Hoffentlich versemmeln wir das nicht noch!“ Zunächst sieht es beinahe danach aus: Zur Halbzeit liegt der VfL mit 4:7 zurück, der schöne Vorsprung ist fast verspielt. „Uns hat die Lockerheit gefehlt“, erzählt Brand, der zudem von einer Schnittwunde am Handballen beeinträchtigt wurde.

Ich war schon zwei Tage vor dem Rückspiel unglaublich nervös.
„Hexer“ und Torwart-Legende Andreas Thiel

Doch nach der Halbzeit steigert sich der Gastgeber, lässt nichts mehr anbrennen und triumphiert am Ende trotz einer 13:14-Niederlage. „Wir gewinnen den Pokal, weil Claus Fey zwei, drei Unterarmwürfe ins Ziel bringt. Die konnte er anfangs nicht, die hatte Trainer Petre Ivanescu ihm beigebracht“, berichtet Thiel. Die Siegesfeier sei wie immer verlaufen: „Feuchtfröhlich und unglaublich anstrengend, die Stadt war voll.“ Beim VfL habe im Europapokal stets gegolten: „Spielen und Vollgas geben. Und wenn das vorbei war, hieß es: Jungs, morgen um 8 Uhr ist Abfahrt, viel Spaß. Dann war Party“, lacht Thiel. Nur dass nach dem Finale statt der Heimfahrt der traditionelle Titel-Frühschoppen in Brands Kellerbar auf dem Programm stand.

Für den umtriebigen Manager Eugen Haas war die Saison schon mit der Finalteilnahme gerettet: Etwa 200 000 Mark soll das Rückspiel gegen ZSKA in die Vereinskassen gespült haben. „Der Etat des VfL hing wesentlich davon ab, dass wir ein, zwei Spiele mit 10 000 Zuschauern in der Westfalenhalle hatten“, sagt Thiel, weil damals der Großteil der Einnahmen aus Ticketverkäufen stammte. Zwar waren der „Hexer“ und seine Teamkollegen offiziell noch Amateure, doch es war ein offenes Geheimnis, dass nicht nur in Gummersbach die „Aufwandsentschädigungen“ höher als erlaubt ausfielen.

Gummersbacher Sepp Wunderlich wurde zum bestbezahlten Handballer der Welt

Und weil die großen Europacupspiele erst in der zweiten Saisonhälfte stattfanden, „war es durchaus üblich, dass wir im Winter kein Geld oder zumindest weniger bekommen haben. Wunderlich wird alles gekriegt haben, aber bei uns anderen hieß es auch mal: keine Kohle!“, verrät Thiel. „Ich habe ja sowieso wenig bekommen, das war das Los der Einheimischen“, ergänzt Brand grinsend.

Wunderlich stieg im Sommer 1983 zum bestbezahlten Handballer der Welt auf, nachdem er das Millionenangebot aus Barcelona angenommen hatte. Zuvor jedoch half er dabei, die Titelsammlung des VfL zu erweitern: mit dem Goldpokal gegen Minsk, der neunten deutschen Meisterschaft und schließlich dem DHB-Pokal. Wie überlegen und selbstbewusst die Gummersbacher in dieser Saison agierten, illustriert Thiel mit einem Beispiel: „Wenn's in der Bundesliga geklemmt hat, bildeten Brand, Thomas Krokowski und Dirk Rauin einen Dreierblock. Sepp nahm den Freiwurf – das war fast wie ein Siebenmeter, der war fast immer drin.“

Stars des VfL Gummersbach zu Gast beim Bundespräsidenten

Ebenfalls eine sichere Sache war die Wahl zur „Mannschaft des Jahres“ – als drittes Handballteam nach den Weltmeistern 1978 und dem TV Großwallstadt 1979. „Bei vier Titeln kamen sie nicht an uns vorbei“, sagt Thiel. Geehrt wurden die Gummersbacher bei einer Veranstaltung in Berlin, „deutlich abgespeckter als das heute in Baden-Baden der Fall ist“, erzählt Brand. Trotzdem habe er die Auszeichnung als „Riesenehre“ empfunden – „auch wenn man Glück haben musste, dass in dem Jahr keine Fußballmannschaft irgendeinen großen Titel gewinnt“.

Andreas Thiel erinnert sich stärker an die Verleihung des Silbernen Lorbeerblatts durch Bundespräsident Karl Carstens in Bonn: „Da war ein Edelrestaurant um die Ecke, da haben wir mannschaftsintern gefeiert.“ Titel und Auszeichnungen errang der VfL auch danach noch – doch eine perfekte Saison wie 1982/83 schaffte er nie wieder.

Rundschau abonnieren