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Urteil zum TodesschussRichter glauben nicht an die Version des Bonner Polizisten

Lesezeit 4 Minuten
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Der wegen fahrlässiger Tötung angeklagte Polizist sitzt weinend auf der Anklagebank im Bonner Landgericht.

Bonn – Die Eltern von Julian R. waren früh schon gekommen. Sie, deren Sohn mit 23 Jahren im Polizeidienst getötet worden war, setzten sich stumm in die noch leere Bank der Nebenkläger. So wie all die anderen Prozesstage zuvor. Die Aufgeregtheit der Journalisten, das Klicken der Kameras kurz vor dem Urteil, das schienen sie in ihrer Welt aus Trauer nicht zu bemerken. Die Mutter hielt ein Foto ihres Sohnes fest zwischen ihren Händen; der Vater, ebenfalls Polizeibeamter, wischte sich Tränen aus dem verweinten Gesicht. Sie waren gekommen, um die Wahrheit zu erfahren, hatte ihre Anwältin gesagt, was damals im Bonner Polizeipräsidium wirklich passiert ist.

Am 26. November 2018 war der junge Polizist auf dem Weg zum Schießtraining von einem heute 23-jährigen Kollegen mit der Dienstwaffe in den Nacken geschossen worden. Zwei Wochen später - am 10. Dezember 2018 - starb der Kollege an den Folgen der schweren Verletzung.

Die 4. Große Strafkammer hat gestern nach drei Verhandlungstagen die Tragödie zumindest strafrechtlich abgeschlossen: Wegen fahrlässiger Tötung wurde der 23-jährige Todesschütze zu zwei Jahren Haft verurteilt; die Strafe wurde gegen eine Auflage von 3000 Euro, zu zahlen an die Polizeistiftung NRW, zur Bewährung ausgesetzt. „Eine vollständige Aufklärung des Unglücksfalls“, so der Kammervorsitzende Klaus Reinhoff gleich zu Beginn mit Bedauern, „ist nicht möglich gewesen.“ Denn der Angeklagte habe eine Version der Tat geschildert, die nicht stimmen könne. „Sie ist außerhalb jeder Nachvollziehbarkeit.“

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Bis zum Schluss hatte der 23-Jährige beteuert, dass der Schuss ein Unfall gewesen sei. Er habe die Walther P99 noch mal überprüft, weil sie angeblich nicht im Holster eingerastet war. Da habe ihn ein Geräusch erschrocken, wodurch er „unbewusst und reflexartig“ abgedrückt habe.

Diese Version sei durch objektive Spuren nicht zu widerlegen, hieß es im Urteil. Weder die Entfernung des Schusses, noch die Standorte von Täter und Opfer konnten sicher festgestellt werden. Aber, so Reinhoff, die Einlassung des Angeklagten sei eine Konstruktion. „Innerhalb weniger Minuten will er sämtliche Polizeiregeln, die ihm antrainiert waren, verletzt haben.“ Vor allem die wichtigste Vorschrift: Eine schussbereite Waffe ist immer ins Holster zu stecken. Stattdessen will er leichtfertig mit der Waffe in einer Hand zum Schießtraining gelaufen sein. Ein geschulter Polizist, der von seinen Kollegen als „verantwortungsvoll“ geschildert worden sei und sich nie ein lässiges Fehlverhalten erlaubt habe?, fragte verständnislos der Richter.

Auch Staatsanwalt Timo Hetzel musste in seinem Plädoyer auf eine Mutmaßung ausweichen: Der Ankläger ging davon aus, dass der Todesschütze „spielerisch“ die Waffe auf den Kollegen gerichtet und dabei die rote Trainingswaffe (Rotwaffe) mit der schwarzen Dienstwaffe verwechselt hat. „Aus kindlichem Spieltrieb, Machogehabe oder Nachspiel einer Terrorsituation?“, das ließ der Ankläger offen. Er hatte für den 23-Jährigen wegen der immensen Fahrlässigkeit eine Gefängnisstrafe von drei Jahren gefordert.

Aber auch diese Version hielten die Bonner Richter für wenig plausibel. Warum sollte er sich für einen „Spaß“ der Kritik seiner Kollegen aussetzen. So präsentierte die Kammer eine drittes, tiefenpsychologisches Szenario: Demnach könnte der Angeklagte nach dem mehrtägigen Antiterrortraining mit seiner Hundertschaft bei einem Geräusch geglaubt haben, „es sei ein simulierter Angriff, dann hat er die Waffe aus dem Holster gezogen und abgedrückt“. Es waren keine zehn Minuten her, dass die Truppe noch mit Rotwaffen (also nicht scharfen Übungswaffen) im Holster trainiert hatte, verletzte Kollegen zu retten. Aber nach dem Wechsel der Waffen am Spind, trug der Angeklagte die schwarze Walther in der Hand.

„Was bin ich für ein Idiot“, soll er nach dem Schuss gesagt haben, war sofort zum schwer verletzten Julian R. gelaufen, der bewusstlos auf dem Boden lag und stark blutete. „Ich habe gedacht, ich hätte noch die Rotwaffe“, hatte er einem Kollegen am Tatort gestanden. Später hat der Angeklagte erklärt, dass er das nur gesagt habe, „um sich rauszureden“. Aber wie sehr die jungen Polizeibeamten durch das sehr fordernde Training psychisch angespannt waren, belegt der Satz eines Zeugen: „Als ich den Schuss hörte, dachte ich: Was haben die sich denn jetzt schon wieder für uns ausgedacht.“ Er habe eine Weile gebraucht, um zu realisieren, dass das „alles echt war“.

„Ein Spontanversagen“, heiß es gestern im Urteil. Dennoch habe der Angeklagte als Waffenträger die Sorgfaltspflicht massivst verletzt. Der 23-Jährige hat auch Konsequenzen gezogen: Er hat den Polizeidienst quittiert und die Zelte in Bonn abgebrochen, wie sein Verteidiger Christoph Arnold anschließend erklärte, um sich nach „der Katastrophe ein neues Leben aufzubauen“.

Dass der Angeklagte nicht mit der Wahrheit rausrücken wollte, sei ihm nicht straferschwerend anzulasten, hieß es im Urteil. Dennoch bleibt der bittere Rest. Vor allem für die Eltern von Julian Rolf, die Schwester, die Freundin: „Es tut mir leid“, so Reinhoff im letzten Satz an die Familie, „dass wir Ihnen keine letzte Gewissheit verschaffen konnten, warum Ihr Sohn sterben musste.“ (ucs)