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Ein ganzes Leben unzertrennlich99-jährige Zwillinge sterben am gleichen Tag

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Die Zwillinge Friedrich und Levert Rost

Osnabrück – Sie sahen sich so verdammt ähnlich, wie ein Ei dem anderen, dass selbst ihre Töchter noch heute ins Grübeln kommen, wenn sie alte Fotos betrachten. „Das ist Papa!“, sagt Edina Rost. In den Händen hält sie die schwarz-weiße Porträtaufnahme eines jungen Mannes. Sie ist fest davon überzeugt, dass sie ihren Vater zeigt, aber ihre Cousine ist es auch. „Nein, das ist doch mein Vater“, erwidert Hanna Rost.

Wer recht hat? Schwer zu sagen. Die beiden Zwillingsbrüder Friedrich und Levert Rost können es nicht mehr auflösen: Im Alter von 99 Jahren sind sie am 24. April 2022 in Osnabrück gestorben – am selben Tag. Selbst der Tod hat sie nur für wenige Stunden voneinander getrennt.

„Die Frauen haben die Männer zu sich geholt."

„Ich habe schon viel erlebt, aber als mich die Angehörigen anriefen, hatte ich Gänsehaut“, sagt Bestattungsunternehmer Oliver Harstick. Zwillinge, die nach 99 Jahren am gleichen Tag sterben, das sei kaum zu glauben. Kurz zuvor waren auch ihre Frauen gestorben. „Die Frauen haben die Männer zu sich geholt“, so hätten es die Familien gesehen, schildert Harstick.

Die Cousinen Hanna und Edina haben Fotos aus Familienalben und in Bilderrahmen herausgesucht. Sie zeigen die gemeinsame Lebensreise ihrer Väter. 99 Jahre: vom weißen Taufkleid bis zur weißen Urne. Friedrich, von allen nur Fritz genannt, und Levert Rost waren eineiig. Zehn Minuten lagen zwischen der Geburt des einen und des anderen am 17. März 1923 in Schüttorf. Ultraschalluntersuchungen gab es damals noch nicht. Die Zwillingsgeburt: eine Überraschung.Die beiden Jungs kamen schmächtig zur Welt, wurden aber „gut aufgepäppelt“, so bekamen es ihre Töchter später erzählt, und so geben sie es heute weiter.

Nur zwei Geburtstage nicht zusammen verbracht

In ihrem Heimatort seien Fritz und Levert bekannt gewesen „wie die bunten Hühner“. Überall tauchten sie im Doppelpack auf. Fritz, der zehn Minuten Ältere, legte auf Fotos stets die Hand auf die Schulter seines Bruders. Zehn Minuten, das reichte, um der Beschützer zu sein. Als die Jungen zehn Jahre alt waren, zogen ihre Eltern, Textilunternehmer, mit den Zwillingen und drei jüngeren Geschwistern nach Osnabrück. Die Stadt sollte danach die Heimat der Brüder bleiben.Nur für ihre Zeit im Internat und für den Kriegsdienst zogen sie noch einmal fort. Der 21. Geburtstag im Krieg – Levert lag verwundet im Lazarett – und der 99. Geburtstag waren die einzigen beiden Geburtstage, die sie nicht zusammen feierten. An allen anderen gab es Pflaumenkuchen. Weil man im März naturgemäß keine frischen Früchte pflücken kann, mussten es Dörrpflaumen sein. Damit sie schön weich wurden, legten die Mütter und später die Ehefrauen sie in Rum ein. Lustige Familienfeiern waren das.

Nur beim Gabentisch habe man eine Konkurrenz der Brüder bemerken können, erinnert sich der Lebenspartner von Edina Rost, Reimund Pohlmann. „Da wurden sie pingelig, nicht dass da ein Geschenk versehentlich auf die andere Seite rutschte und einer doppelt absahnte.“ Geschenkt bekamen sie aber meist ohnehin das Gleiche.

Streit, den muss es doch öfter mal gegeben haben, wenn zwei so viel Zeit miteinander verbringen? Nein, sagen die Töchter. Soweit sie sich erinnern können, gab es den nicht. Nie. Die Brüder hätten sich blind vertraut. Sie hätten alles miteinander besprechen können, brauchten aber nicht viele Worte, um sich zu verstehen. So sei das gewesen.

Zwilling sprang als Doppelgänger ein

Nach dem Krieg lebten die Zwillinge erst unter einem Dach, dann viele Jahrzehnte lang mit der jeweils eigenen Familie in unmittelbarer Nachbarschaft zueinander. „Das Kleeblatt“, so nannte die Verwandtschaft die Brüder und ihre Frauen. „Weil sie zu viert so eng waren“, sagt Edina Rost. Liesel und Fritz, Levert und Friedel, L und F. Sogar die gleichen Initialen trugen die beiden Paare. Im Alter unternahmen sie gemeinsame Urlaube in Reisegruppen. Und sie besuchten zusammen die Tanzschule – Standard und Latein.

Beide Frauen stammten aus derselben Gemeinde, ein Zufall. Friedel, die Lehrertochter. Liesel, das Pfarrerskind. Als Friedel ihren Verlobten Levert ihrer Familie vorstellen wollte, war der krank. Kurzerhand sprang Fritz als Doppelgänger ein. So gab es für die Familie zumindest Anschauungsmaterial. „Das ist nicht mein Verlobter, aber er sieht genauso aus.“

Bis sie verheiratet waren, trugen die Brüder stets die gleiche Kleidung. Ihre Schuhe mussten sie oft gesondert bestellen, natürlich jeweils das gleiche Modell. Die Füße waren außergewöhnlich klein geblieben: Größe 38. Noch als Senioren sprachen sie sich vor Familienfeiern ab: „Fritz, was ziehst du an?“ „Den blauen Anzug und diese Krawatte.“ „Gut, dann mache ich das auch.“ Niemand habe erwartet, dass sie sich gleich kleideten. Doch bei besonderen Anlässen wollten sie es so, sagen die beiden Töchter. Beim Essen im Restaurant war es ähnlich. „Was bestellst du? Gut, dann nehme ich das auch.“Wie oft sie im Laufe ihres Lebens verwechselt wurden? Sicher unzählige Male. Aber Fritz und Levert hätten ihre Ähnlichkeit nie ausgenutzt, erzählen ihre Töchter. „Ich bin der andere“, wurde zum geflügelten Wort, wenn auf der Straße mal wieder einer grüßte, den der verwechselte Zwilling gar nicht kannte.

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Die Cousinen Edina (l.) und Hanna Rost schwelgen in Erinnerungen

Auch ihren 95. Geburtstag feierten die Zwillingsbrüder vor vier Jahren zusammen. Sie waren noch rüstig, körperlich und geistig fit. Doch eine Woche später erlitt Friedrichs Frau Liesel eine Hirnblutung nach einem Sturz. Sie wurde bettlägerig und musste lange gepflegt werden. Leverts Frau Friedel hatte 2019 einen Schlaganfall, auch sie war zum Schluss gesundheitlich stark angeschlagen. Im Februar 2022 starb sie auf der Palliativstation eines Krankenhauses. Sechs Wochen später schloss Liesel für immer ihre Augen. Innerhalb von drei Monaten verlor die Großfamilie Rost in diesem Jahr das vierblättrige Kleeblatt. Ein Blatt nach dem anderen. „Wie ein Kartenhaus, das keinen Halt mehr hat, wenn eine Karte wegfällt“, sagt Hanna Rost.

Die Männer hätten den Tod ihrer Frauen nicht verwunden, glaubt Hanna. Ihr Vater habe danach kaum noch gegessen. Doch Fritz Rost harrte noch eine Weile aus. Im April sah er zum ersten Mal sein erstes Urenkelkind. Sie hielten sich an der Hand. Am Sonntag danach sei bei ihm eine starke Unruhe zu spüren gewesen, sagt seine Tochter Hanna. Eine ihrer beiden Schwestern reiste noch schnell aus Hannover an. Sie waren 20 Minuten bei ihrem Vater, da tat er den letzten Atemzug. „Als ob er gewartet hätte.“

Am selben Wochenende lag Levert Rost auf der Palliativstation im Krankenhaus. Er konnte nicht mehr richtig schlucken, eine Folge seiner Demenz. Ihr Vater habe mit weiten Augen in die Sonne geblickt, erzählt Edina Rost von ihrem letzten Besuch in der Klinik. „Er liebte die Sonne.“ „Die Friedel hat den Sekt schon kalt. Die Liesel assistiert ihr. Der Fritz ist jetzt auch schon mal vorgegangen“, sagte sie zu ihrem Vater, so erzählt sie es. „Du musst jetzt nur noch als Letzter das Licht ausmachen.“ Und da schloss er seine Augen.