Online-Rechner sollen mit nur wenigen Angaben berechnen können, wie lange eine Person noch zu leben hat. Doch wie genau sind diese Rechnungen? Forscher und Statistiken zeigen, inwieweit sich der eigene Tod wirklich voraussagen lässt.
Online-RechnerMöchten Sie wissen, wann Sie sterben?

Den Todeszeitpunkt kennen? Will man das überhaupt? Wenn ja, können Online-Rechner helfen.
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Im Jahr 2062 werde ich voraussichtlich sterben. Meinen Leichenwagen wird dann wohl eine KI steuern, vielleicht angetrieben von Fusionsstrom. Die Welt wird sich um zwei Grad erwärmt haben, manche Regionen werden unbewohnbar sein. Dafür pflücken vielleicht Menschen auf dem Mars ihre ersten Tomaten. Etwas in der Art kann man sich ausmalen, wenn man auf einen der im Netz verfügbaren Rechner klickt und die persönliche Lebensspanne abschätzen lässt. Zunächst muss ich eine Reihe persönlicher Angaben machen. Am Ende erhalte ich die frohe Botschaft: Meine Lebenserwartung beträgt satte 93. Sie ist eine Art Orakel, ein Blick in die Glaskugel – allerdings unterfüttert mit wissenschaftlichen Daten. Doch was bedeutet das errechnete Alter wirklich – und ist es überhaupt ratsam, sich so genau mit der eigenen Sterblichkeit zu beschäftigen? Zunächst der offensichtliche Haken: Bei dem Orakel handelt es sich um Statistik. Schon morgen könnte ich bei einem Autounfall sterben, im nächsten Jahr eine Krebsdiagnose bekommen oder einen Herzinfarkt. Zum Glück ist die Wahrscheinlichkeit dafür aber gering. Von 1000 Frauen, die in Deutschland die 56 erreicht haben, werden 997 auch ihren 57. Geburtstag feiern.
Lebenserwartung steigt weiter
Diese Rechnung ist noch vergleichsweise simpel. Schon seit dem 19. Jahrhundert sammeln Demografen in Deutschland Sterbedaten in sogenannten Sterbetafeln. Die vielen Einzelschicksale gehen in der statistischen Masse auf: Jahr um Jahr sterben in allen Altersgruppen ähnlich viele Menschen, wenn nicht gerade ein Krieg oder eine Pandemie wütet. Allerdings stimmt das nicht ganz: Jedes Jahr überleben in Deutschland Menschen, die laut Statistik eigentlich hätten sterben müssen. Im Lauf der Jahrzehnte addiert sich das zu einem eindrucksvollen Unterschied in der Lebenserwartung. Kinder, die heute geboren werden, haben deutlich bessere Chancen, älter zu werden als ihre Großeltern. Vor 75 Jahren waren die Überlebenschancen weit niedriger als heute. Künftig werden viel mehr Menschen als heute 75 Jahre alt werden. Und es wird auch weit mehr hundertjährige Greise geben!
Diesen Trend beobachten Demografen schon länger und korrigieren damit ihre Sterbeprognosen. „Seit Langem gilt für die wohlhabenden Länder mit hoher Lebenserwartung eine Faustregel: Mit jedem neuen Kalenderjahr steigt diese um zwei bis drei Monate“, sagt Michael Ortmann, der an der Berliner Hochschule für Technik forscht und Versicherungsmathematik lehrt. Seine Mathematik der Sterblichkeiten ist für Versicherungen eine essenzielle Geschäftsgrundlage. Denn nur so können sie ermitteln, ob man aus den Beiträgen der Kunden lebenslange Zahlungen generieren kann und noch einen Gewinn für die Versicherung erzielt. Das Gleiche gilt für Zahlungen im Todesfall – hier muss die Versicherung die Sterbewahrscheinlichkeit möglichst präzise kalkulieren. Mich interessieren allerdings nicht nur die Durchschnittswerte aller Menschen, ich möchte es genauer wissen. Im Netz gibt es dafür einige Rechner. Auf „wie-alt-werde-ich.de“ muss ich Angaben zu Geburtsdatum, Geschlecht und Einkommen machen, zu Bildungsgrad, Gesundheit und Lebensweise: Wie viel wiege ich? Wie oft greife ich zum Alkohol? Schlafe ich genug, wie gestresst fühle ich mich?
Männer haben Pech
„Besonders stark wirken sich Geschlecht und Einkommen aus“, sagt Michael Ortmann, der den Rechner fachlich unterstützt hat. „Eine wohlhabende Frau lebt im Vergleich zu einem armen Mann um mehr als zehn Jahre länger.“ Zu all den Details, die ich über mein Leben preisgebe, gibt es eine Vielzahl Studien. So haben beispielsweise Forschende aus Schottland in einer 25-jährigen Langzeitstudie tausende Männer und Frauen begleitet und dabei Schlafdauer, Stress sowie klassische Herz-Kreislauf-Risikofaktoren erfasst. Das Ergebnis: Wer dauerhaft weniger als sieben Stunden pro Nacht schlief, hatte ein um 20 bis 30 Prozent höheres Sterberisiko als jene mit regelmäßig sieben bis acht Stunden Schlaf – unabhängig von Alter, sozialem Status und Stress. Jeder Atemzug kann über Leben und Tod entscheiden. Ein europäisches Forschungsteam hat Daten aus 22 Langzeitstudien ausgewertet, um den Einfluss von Luftverschmutzung auf die Sterblichkeit zu untersuchen.
Wer über Jahre hinweg höherer Feinstaubbelastung ausgesetzt war, hatte ein spürbar erhöhtes Risiko, vorzeitig zu sterben. Unabhängig von Region oder Lebensstil gab es eine lineare Korrelation zwischen dem Feinstaubgehalt und dem Sterberisiko. Die Wissenschaft streckt ihre Messfühler in alle Lebensbereiche: Forscher in Finnland etwa haben die Sterblichkeit von über 15 Millionen Menschen untersucht – differenziert nach Lebensform und Haushaltskonstellation. Das Ergebnis: Wer im erwerbsfähigen Alter allein lebt, hat ein bis zu dreifach erhöhtes Sterberisiko im Vergleich zu Verheirateten – besonders häufig aufgrund von Alkohol, Unfällen oder Lungenkrebs. Diese und noch viel mehr Studien sind in die Algorithmen des „Wie alt werde ich“-Rechners eingeflossen, die Seite wird von der Versicherungsindustrie gesponsert. „Sicher haben wir nicht sämtliche bekannten Faktoren, die sich auf die Sterbewahrscheinlichkeit auswirken, in den Rechner integriert“, sagt Ortmann.
Schokolade ist Mord
Noch weiter treibt es der Rechner www.livingto100.com, den ein Arzt der Boston University School of Medicine verantwortet. Hier werde ich auch nach Blutdruck und Cholesterin gefragt, welche Sorgen mich umtreiben, wie oft ich Stuhlgang habe, ob ich Zahnseide und Sonnencreme benutze. Das Geständnis, regelmäßig Süßigkeiten zu essen, kostet mich ein ganzes Lebensjahr. Die Schokolade, die mein freundlicher Kollege mir häufig anbietet, gerät so zum Mordanschlag. Ortmann hält eine Abfrage von so vielen Einzelheiten nicht für sinnvoll: „Die spielen im Vergleich zu dem Grundrauschen, also den nicht vorhersehbaren Zufällen, dann doch keine wichtige Rolle.“ Tatsächlich sind die Ergebnisse ähnlich. Doch bei dem zweiten Rechner werde ich sogar 94, Schokolade inklusive.
Die unglückliche Zwillingsschwester
Zum Vergleich erfinde ich eine virtuelle Zwillingsschwester mit sehr ungesunden Angewohnheiten. Sie gleicht mir aufs Haar, raucht aber täglich eine Packung Zigaretten und kippt jeden Tag eine Flasche Wein. Die Ärmste hat Eheprobleme, Geldsorgen und Angst, den Job zu verlieren. Bei all dem Stress kann sie sich zum Sport nicht aufraffen. Ärzte meidet sie ohnehin wie der Teufel das Weihwasser, ihren Blutdruck kennt sie gar nicht. Meine unglückselige Schwester wird schon mit 73 sterben, so spuckt es mitleidslos der Rechner aus. Oder aber sie dreht mir eine lange Nase und tanzt auf meiner Beerdigung. Denn noch immer ist alles nur Statistik. Für jedes Jahr in meinem Leben geben die Algorithmen eine gewisse Wahrscheinlichkeit aus, mit der ich sterben werde. Die Tatsache, dass ich schon ein paar Jahrzehnte überlebt habe, erhöht natürlich meine Lebenserwartung gegenüber der, die ich bei meiner Geburt hatte.
Für das Alter von 93 erreicht meine Sterbewahrscheinlichkeit mit knapp fünf Prozent den höchsten Wert. Fast genauso wahrscheinlich ist es aber, dass ich mit 92 oder 94 sterben werde. Aber wie aussagekräftig sind diese Werte? „Ein solcher Rechner ist eine nette Sache und kann auch interessant sein, aber das Leben ist komplexer, als es diese Algorithmen abbilden können“, sagt Marcus Ebeling der den Bereich „Bevölkerung und Gesundheit“ am Max-Planck-Institut für demografische Forschung in Rostock leitet. Ebeling erforscht, warum manche Menschen besonders lange leben und wie man sie erkennen kann. Bevorzugt wertet er skandinavische Lebensläufe aus, weil hier weit mehr Daten zur Verfügung stehen als in Deutschland. Menschen, die 100 Jahre oder älter werden, zeigen schon Jahrzehnte zuvor auffällig günstige Blutwerte. Das hat er zusammen mit einem Team im Rahmen einer schwedischen Langzeitstudie herausgefunden. „Das sind Hinweise auf biologische Faktoren und erklärt möglicherweise den Einfluss von unterschiedlichen Lebensstilen“, so Ebeling. Die Berechnung der Lebensspanne könnte künftig allerdings genauer werden, weil Menschen bereitwillig immer mehr Informationen über ihre Gesundheit und ihre Lebensweise sammeln, und man die Daten aus der Smartwatch mittels KI auch besser wird auswerten können. „Einzelpersonen könnten aufgrund neuer Technologien wie Wearables irgendwann einen zunehmend differenzierteren Blick auf ihre Lebenserwartung haben“, meint Ebeling.
Vorhersage durch mehr Daten?
Die Fragen, die ich in dem Rechner beantwortet habe, ergeben nur ein verschwommenes und lückenhaftes Bild von meiner Lebenswirklichkeit. Doch immerhin vermitteln sie mir ein Gefühl dafür, wie lang mein Leben noch währen könnte. Ein naheliegender Nutzen davon ist die Planung der Altersvorsorge – zweifellos der Grund, warum Versicherungen die Rechner finanzieren. Ein anderer Vorteil könnte darin liegen, die eigene Lebensführung zu überprüfen. Soll ich die Schokolade meines Kollegen künftig ablehnen und dafür statistisch ein Lebensjahr gewinnen? (Auf keinen Fall!) Lohnen könnte es sich, den Blutdruck zu messen und nie wieder mit dem Rauchen anzufangen. Dabei gibt es allerdings Fallstricke. Denn zwar haben Forscher viele Korrelationen gefunden, doch nicht immer ist es so klar wie beim Rauchen, ob es sich um kausale Zusammenhänge handelt. Menschen, die regelmäßig Zahnseide benutzen, haben tatsächlich ein erniedrigtes Sterberisiko. Das mag daran liegen, dass sie weniger unter Zahnfleischentzündungen und damit weniger unter versteckten Entzündungen im Körper leiden – und womöglich verhindert das Herzinfarkte oder andere Krankheiten. Oder aber die Zahnseide hat damit gar nichts zu tun, und es handelt sich schlicht um besonders gesundheitsbewusste Menschen. Die Zahnseide wäre dann nur ein Marker, an dem man sie identifizieren kann. Verheiratete Menschen leben im Durchschnitt zwar länger als Singles. Aber natürlich hat der Trauschein selbst keine heilenden Kräfte. Vielmehr dürfte der Partner einen im Krankheitsfall zum Arztbesuch scheuchen oder beim dritten Glas Wein kritisch die Augenbrauen heben. Das heißt nicht, dass alle Alleinlebenden zum frühen Tod verdammt sind. Ohnehin könnten einem die unvorhersehbaren, oft irren und manchmal tragischen Entwicklungen unserer Welt einen Strich durch das statistisch ermittelte Leben machen. „Es könnte medizinische Durchbrüche geben, durch die Krankheiten geheilt werden“, sagt Michael Ortmann.
Zufälle sind nicht Teil der Rechnung
„Ein schlechter Blutdruck ist dann vielleicht weniger ein Risikofaktor als früher.“ Der Versicherungsmathematiker hält es aber auch für möglich, dass der Trend zu immer längeren Lebensspannen abflachen wird – „weil wir gar nicht so viel Geld und so viele Möglichkeiten haben, das beliebig zu verlängern.“ So ganz genau will ich mein Sterbedatum gar nicht kennen – wer wollte schon auf eine Wand zu leben? Die großzügige Lebensspanne, die mir der Rechner zugeteilt hat, vermittelt mir immerhin ein Gefühl von Weite. Und von Neugier – auf all das, was noch kommen wird. Vielleicht ist es aber ohnehin am besten, jedes Jahr so zu leben, als wäre es das letzte.
Dieser Text erschien zuerst im „Tagesspiegel“ in Berlin.