Der größte Stromausfall in Madrid brachte die Stadt für Stunden zum Stillstand, förderte jedoch Solidarität und Gemeinschaft unter den Bewohnern.
„Wir haben uns mehr in die Augen geschaut“Wie die Menschen in Madrid den Blackout erlebten

Paquita Gonzalez weint, während sie auf Informationen über die Zugabfahrten wartet
Copyright: Emilio Morenatti/AP/dpa
Mehr als drei Millionen Madrilenen erleben den größten Stromausfall der jüngeren Geschichte – ein stundenlanger „Blackout“, der in ganz Spanien die elektrischen Uhren anhält, Züge stoppt, Bildschirme abschaltet und die Hauptstadt ins Chaos stürzt. Was in Madrid als gewöhnlicher Montag begann, wird schlagartig zu einem Tag, den niemand so schnell vergessen wird.
Kurz nach 12.30 Uhr mittags wird alles schwarz. Ohne Vorwarnung fällt der Strom in Wohnungen, Büros, Krankenhäusern und auf den Straßen aus. Ampeln hören auf zu blinken, Fernseher gehen aus, Internet und Mobilfunknetz brechen zusammen. Nur die wenigen, die eigene Generatoren besitzen, können eine gewisse Normalität aufrechterhalten. Doch die Wirklichkeit anders aus: Madrid und weite Teile Spaniens stehen still.
Aufzüge stoppen, Züge bleiben stehen, Lichter gehen aus
Ohne funktionierende Ampeln wird Autofahren zur Herausforderung. Polizisten regeln den Verkehr an kritischen Kreuzungen. Züge und Untergrundbahnen kommen abrupt zum Stillstand. Wer im Madrider Zentrum die U-Bahn nehmen will, findet dunkle Stationen vor. Rolltreppen, Lichter, Fahrkartenschalter – nichts funktioniert. Mit Handytaschenlampen suchen sich Zehntausende den Weg aus den U-Bahnschächten.

astilla y León: Rettungskräfte helfen einer Person mit eingeschränkter Mobilität während des Stromausfalls.
Copyright: Tomás Alonso/EUROPA PRESS/dpa
Menschenströme, die normalerweise unterirdisch mit der Bahn unterwegs sind, kommen an die Oberfläche und überfüllen Bushaltestellen und Gehwege. „Bitte Ordnung halten, nicht drängeln“, ruft ein Busfahrer angesichts der langen Schlange an der Haltestelle. Die Millionenstadt, die normalerweise in Höchstgeschwindigkeit lebt, bewegt sich plötzlich im Schritttempo.
Auf den Plätzen nahe der Büros improvisieren Angestellte Picknicks in der Frühlingssonne. Einige hatten, wie üblich, in Tupperdosen ihr Mittagessen mitgebracht. Andere ergattern in den Supermärkten fertig abgepackte Sandwiches, die nach wenigen Minuten ausverkauft sind. Warmes Mittagessen gibt es an diesem Tag nicht. „Gehst du zurück ins Büro? Wozu, wenn nichts funktioniert?“, sagt der Mitarbeiter eines Kaufhauses im Stadtzentrum.

Madrid: Betrieb eines Obstladens in Madrid während des Stromausfalls.
Copyright: Fernando Sánchez/EUROPA PRESS/dpa
Andere nutzen die Gelegenheit für ein schnelles Bier auf der Terrasse einer Straßenkneipe: „Heute muss man schnell trinken, sonst wirds warm ohne Kühlschrank“, scherzen zwei Kollegen. Wenig später machen viele Restaurants und Bars zu, weil Kochherde und Kühlschränke nicht mehr funktionieren. Viele Menschen bleiben in Aufzügen stecken. Mario, einer der Betroffenen, berichtet über die bangen Stunden: „Sie konnten mich erst nicht rausholen, weil ich zwischen zwei Stockwerken steckte und es gefährlich war. Aber schließlich haben sie es geschafft.“ Ohne Handyverbindung und Internet wusste er zunächst nur das, was ihm die Nachbarn von außen zuriefen.
Am Flughafen herrscht ebenfalls Chaos. Flüge verspäten sich, Bordkarten werden von Hand ausgefüllt. Am Taxistand bilden sich Riesenschlangen, weil die Bahnverbindung zum Airport unterbrochen ist. Reisende teilen sich Taxis, um an diesem Tag doch noch irgendwie vom Airport in die Stadt zu kommen.
Viele erinnert die Situation an apokalyptische Kinoszenen. „Die Ampeln sind ausgefallen, und ich denke an all die Katastrophenfilme, die ich im Kino gesehen habe“, berichtet ein Mann im Rundfunk.
Doch die Wirklichkeit ist gnädiger: Es herrschen Ruhe, Respekt und eine seltsame Bürgerharmonie. Autos fahren langsam, Fußgänger überqueren vorsichtig die Straßen. Die Hauptstadt wirkt so, wie man sich das Leben vor hundert Jahren vorstellt – ohne Eile.
Inmitten des Chaos erlebt das batteriebetriebene Radio ein Comeback. Überall, wo jemand ein Transistorradio hat, bilden sich Menschengruppen, die gespannt den Nachrichten lauschen. In Bars, Bahnhöfen, Werkstätten und auf der Straße – das Radio wird zur wichtigsten Informationsquelle. Die Behörden rufen kurz nach dem Stromausfall dazu auf, zu Hause zu bleiben. „Die Stadtautobahn ist gesperrt“, warnt Bürgermeister José Luis Martínez-Almeida. In den Krankenhäusern halten Notstromaggregate die lebenswichtigen Systeme am Laufen. Auch in den Rundfunkstationen sorgen eigene Generatoren für Strom.
Die Not schweißt Menschen zusammen
Inmitten des Chaos blüht die Solidarität. Die Menschen tauschen Informationen aus, helfen einander. Alle scheinen aufmerksamer, ruhiger zu sein. Am späten Abend, gut zehn Stunden nach Beginn des Albtraums, kehrte das Licht allmählich in die Stadtviertel zurück. Madrid atmet auf, in den Straßen hört man Applaus und Jubel. Die Not schweißt zusammen. Das ist die gute Erfahrung dieses historischen Blackouts. „Wir haben uns mehr in die Augen geschaut, mehr mit unseren Mitmenschen geredet“, sagt eine Nachbarin. „Und für einen Tag haben wir erlebt, wie das Leben war, bevor alles vom Strom abhing.“