Zum WeltfrauentagRifa'iyya – ein islamischer Orden unter weiblicher Führung

Cemalnur Sargut ist spirituelle Führerin der Rifa'iyya
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Istanbul – Gut gekleidet sind die Herrschaften, die sich an einem Werktag um zehn Uhr morgens in einem Auditorium auf der asiatischen Seite von Istanbul versammelt haben: die Damen gefönt und geschminkt, die Herren im Sakko. Als eine zierliche Frau eintritt, erheben sich alle Anwesenden und legen die Hand aufs Herz. Die Frau ist ihre "Meisterin" - die spirituelle Führerin des islamischen Ordens der Rifa'iyya.
Cemalnur Sargut passt nicht in das Bild, das man sich von einem "Scheich" macht, einem islamischen Ordensführer mit langem Bart und Turban. Die 65-Jährige trägt ihr schwarzes Haar gern offen, und manchmal trägt sie auch Lippenstift. Zweimal geschieden ist sie obendrein - und dennoch das unangefochtene Oberhaupt eines islamischen Ordens mit Hunderttausenden Anhängern.
Nur aus der Ferne sieht der türkische Islam aus wie eine orthodoxe Einheitsreligion; aus der Nähe betrachtet gleicht er eher einem bunten Mosaik. Offiziell sind die Orden in der Türkei zwar seit fast hundert Jahren verboten, doch ihre lebendige Vielfalt zeigt, dass der Glaube sich nicht staatlich verordnen lässt. Die Rifa'iyya etwa beziehen ihre Anhänger aus der gebildeten Oberschicht.
Nicht durch Wissen zu Gott, sondern durch Anstand
Sargut liest zunächst aus dem "Masnavi", einem sechsbändigen spirituellen Gedicht des Sufi-Poeten Mevlana Rumi aus dem 13. Jahrhundert: "Mevlana sagt: 'Ich dichte nicht, denn zum Dichten braucht man den Verstand; ich gebe mich nur dem Willen Gottes hin, denn der weiß, was zu schreiben ist'", zitiert sie und blickt ins Publikum. "Sehen Sie, das ist ein unglaublich wichtiger Punkt: Wir können ja vieles wissen, aber wissen wir, was morgen sein wird? Oder was wird aus unserem Wissen, wenn wir Alzheimer bekommen? Zu Gott finden wir nicht durch Wissen, sondern durch Anstand."
Der Gedanke gehört zu den Grundlagen des Sufismus, der mystischen Strömung des Islam, der den Koran mit dem Herzen zu erfassen versucht statt nur mit dem Verstand. Sufismus sei der Prozess, in dem der Mensch zur inneren Ruhe finde, indem er eine Beziehung zu seinem Schöpfer aufbaue, erläutert Sargut: "Toleranz, Liebe, die Ansichten aller Menschen zu achten - das ist die Essenz des Sufismus."
Lehrstuhl für Sufismus in der Türkei
Wie verträgt sich ihr Vortrag mit dem Verbot der Orden seit der Gründung der Republik in den 1920er Jahren? Formal gelte das Verbot nach wie vor, erklärt Cemalnur Sargut , aber ihr Vorgänger und Lehrmeister Kenan Rifai habe einen Ausweg gefunden. "Als 1925 alle Orden geschlossen wurden, hat er uns aufgetragen, den Sufismus auf dem Bildungsweg zu lehren - das war seine geniale Idee", erzählt sie. In der Türkei hat der Orden einen Lehrstuhl für Sufismus an einer staatlichen Universität in Istanbul, und auch in den USA, Japan und sogar China hat Sargut inzwischen Lehrstühle für Sufismus mitbegründet.
Die starke Rolle von Frauen bei den türkischen Rifa'iyya geht auf den Ordensvater Kenan Rifai zurück, der die Sekte zu Beginn des 20. Jahrhunderts gründete. Rifai benannte als seine direkte Nachfolgerin eine Frau, Samiha Ayverdi. Von ihr übernahm wiederum Cemalnur Sargut die Führung.
Wieviele Anhänger der Orden hat, kann Sargut nicht sagen, aber ihr letztes Buch hat eine Auflage von 100 000 erreicht, ihrer Facebook-Seite folgen mehr als eine halbe Million Menschen. Obgleich darunter auch viele Männer sind, überwiegen doch die Frauen. Ihnen eröffne der Orden einen Weg zum Glauben, der ihnen im orthodoxen Islam versperrt ist, sagt Cemalnur Sargut. Zum menschlichen Anstand sei kein Kopftuch notwendig, meint sie.