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Interview

Wirtschaftsweiser zur Rentenreform
„Das nimmt die Alten aus der Haftung“

4 min
Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung

Martin Werding, Mitglied des Sachverständigenrats zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung, kritisiert die neuen Regelungen zur Altersvorsorge. 

Wirtschaftsweiser Martin Werding kritisiert das Rentenpaket 2025: Es entlastet Ältere und belastet jüngere Generationen stärker.

Die Bundesregierung hat das Rentenpaket 2025 auf den Weg gebracht – mit der Festschreibung des Rentenniveaus bis 2031 und ohne weitere Anhebung des Renteneintrittsalters. Für den Wirtschaftsweisen Martin Werding, Professor für Sozialpolitik an der Uni Bochum, ist das der falsche Kurs. Er warnt im Interview mit Finja Jaquet vor den finanziellen Folgen für kommende Generationen.

Herr Werding, am vorigen Mittwoch hat das Kabinett das erste Rentenpaket der schwarz-roten Bundesregierung beschlossen. Wie bewerten Sie die neuen Regelungen?

Dieses Rentenpaket lag ja in der Luft, stand schon im Sondierungspapier und im Koalitionsvertrag. Mein Eindruck ist, dass das Problembewusstsein bei der Bundesregierung auf beiden Seiten gewachsen ist. Sowohl Friedrich Merz als auch Lars Klingbeil haben von einem Herbst der Reformen, von schwierigen Reformen gesprochen. Aber dann sollten sie sich verständigen, Kommissionen einsetzen und gucken, was ist denn wirklich zu tun im Bereich Alterssicherung und auch in den anderen Sozialversicherungen. Aber jetzt schnell dieses Paket durchzuwinken, das ist bedenklich – weil es zu nichts passt. Es passt nicht zu den finanziellen Perspektiven des Rentensystems, es passt nicht zur finanziellen Lage des Bundeshaushalts.

Was kritisieren Sie an dem Paket?

Dass man die bisherige Strategie einer Teilung der Lasten der demografischen Alterung zwischen Alt und Jung aufkündigt: Bisher hatten wir die Anhebung der Regelaltersgrenzen und die Senkung des Rentenniveaus, die die Älteren belasten und trotzdem steigende Beiträge und mehr private Vorsorge, die die Jüngeren belasten. Das kann man im Grunde weiterentwickeln und gucken, wie schaffen wir damit den nächsten Alterungsschub. Aber jetzt ein konstantes Rentenniveau bis 2031 festzuschreiben und die Regelaltersgrenze nicht weiter anzuheben, das nimmt die Alten völlig aus der Haftung.

Was hätte stattdessen passieren müssen?

Man hätte nach der Wahl ehrlich sagen sollen, dass diese kurzfristigen Ansätze angesichts der Perspektiven – also dem Renteneintritt der Babyboomer, der stark steigenden Beitragssätze auch bei Krankenversicherung und Pflege – momentan nicht vereinbar sind. Stattdessen braucht es Strukturreformen, die die Schutzversprechen dieser Sozialversicherungen natürlich aufrechterhalten, aber die auch die Finanzierbarkeit für die nächsten 15 Jahre sicherstellen. Das wäre die richtige und ehrliche Ansage gewesen.

Wie sähe eine zukunftsfähige Alternative genau aus?

Die demografische Alterung hat zwei Ursachen: die voraussichtlich weiter steigende Lebenserwartung und die niedrigen Geburtenzahlen seit Anfang der 1970er Jahre. Für beides gibt es ursachengerechte Reformen: eine Anhebung der Regelaltersgrenze um einen Teil – am besten zwei Drittel – der zusätzlichen Lebenserwartung und einen Ausbau ergänzender kapitalgedeckter Altersvorsorge, die die Renten unabhängiger macht von der Zahl jüngerer Erwerbspersonen. Das stabilisiert die Alterssicherung langfristig. Für die beschleunigte Alterung durch die Renteneintritte der Babyboomer reichen diese Maßnahmen aber noch nicht aus. Für diese Phase, also für die nächsten zehn bis 15 Jahre, brauchen wir zusätzliche Schritte, die den Anstieg der Rentenausgaben dämpfen, damit die Jüngeren ergänzend vorsorgen können.

Das Problem der demografischen Alterung ist eigentlich schon lange bekannt. Was hat die Politik bisher getan, um den Effekt abzufedern?

Die letzte Reform, die mit demografischer Alterung zu tun hatte, war die Heraufsetzung der Regelaltersgrenze, die 2007 beschlossen wurde und ab 2012 in Kraft trat. Danach hatten wir über 15 Jahre eine sehr starke Arbeitsmarktentwicklung, hohe Zuwanderung, der demografische Alterungsprozess hat Pause gemacht Und in dieser Zeit ist die Politik völlig aus dem Tritt gekommen. Sie hat mehrfach so getan, als könnte man noch zusätzliche Ausgaben auf das System aufflanschen: wie die Rente ab 63 oder die Mütterrente 1 und 2. Im Grunde ist jetzt über 15 Jahre nicht genug über die Altersvorsorge geredet worden und das heißt auch, die Bürger sind nicht darauf vorbereitet. Die Leute scheinen nicht im Mindesten zu wissen oder es nicht wahrhaben zu wollen, wie die Situation ist: Wir sind ab 2035 eine fortgeschritten alternde Bevölkerung und wir brauchen ein Alterssicherungs- und ein Sozialversicherungssystem, die dazu passen. Da gibt es nichts zu überbrücken – aber diese Diskussion ist einfach nicht geführt worden.

Dabei hat der Sachverständigenrat Wirtschaft, dem Sie angehören, dazu bereits einige Empfehlungen ausgesprochen. Wurden die einfach ignoriert?

Auf dem Ohr „Reformen der Sozialversicherungen“ ist die Politik seit 15 Jahren notorisch taub. Seit ich in der Politikberatung bin, wurde da viel verschlafen. Bei anderen Themen gibt es dagegen einen regen Austausch: Fachkräftezuwanderung, Erwerbsanreize in der Grundsicherung. Auch hier dreht sich die Diskussion manchmal im Kreis, kommt immer wieder auf dieselben Themen und Überlegungen. Aber es gab auch zahlreiche Gesetzesänderungen. Das Thema Alterssicherung ist dagegen zu kurz gekommen.

Wohin führt dieser Kurs der Bundesregierung Ihrer Einschätzung nach?

Die Diskussion über die Rente lässt sich nicht dauerhaft verdrängen. 2027/28 steigt der Beitragssatz der Rentenversicherung sprunghaft auf annähernd 20 Prozent und danach langsam immer weiter. Dann muss gegengesteuert werden. Wenn dann doch über das Rentenalter und über Absenkungen des Sicherungsniveaus diskutiert wird, produziert das eine Riesenenttäuschung. Der aktuelle Kurs ist politisch also sehr gefährlich.