Man redet nicht mehr miteinander. Was ergibt sich daraus? Polarisierung und Unverständnis, Streit und Zerwürfnisse – selbst in Familien. Die Spaltung wird tiefer und tiefer. Muss das sein?
Andere Gesinnung?Die Debattenkultur in Deutschland wird immer lausiger

Auch in den sozialen Medien geht die Debattenkultur den Bach runter.
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Was Nina Chuba singt, kenne ich nicht. Ich höre seit zig Jahren fast nur noch klassische Musik. Einmal habe ich in ein Interview mit der 26-Jährigen reingezappt. Ich erlebte sie als ausgelassen und fröhlich, für mich eine Spur zu überdreht, weshalb ich nach wenigen Minuten wieder weg bin. Ich komme nicht umhin, anzuerkennen, dass ich ein alter Mann werde. Die Popsängerin ist in Wedel bei Hamburg aufgewachsen, ihre Eltern stammen aus Sachsen-Anhalt, sind also wie Hunderttausende in den Westen gezogen, um dort ihr Glück zu finden. Neulich bekannte Chuba in einem Interview mit dem „Spiegel“, aufgrund politischer Differenzen den Kontakt zu Verwandten eingestellt zu haben. Sie sagte: „Ich habe mit einem Teil meiner ostdeutschen Familie gebrochen, weil sie politische Haltungen vertreten, für die ich nicht stehe. Ich kann da auch keine falsche Toleranz oder Verständnis zeigen. Ich bin absolut gegen die AfD.“
Zerstritten wegen einer anderen politischen Meinung
Man muss davon ausgehen, dass es Hunderttausenden, vielleicht sogar Millionen anderen Menschen in Deutschland ebenso ergangen ist, dass sie sich entweder von Familienmitgliedern oder Freunden losgesagt, die Verbindung gecuttet haben – natürlich auch in die andere politische Richtung. Ein Leser schrieb mir vor nicht langer Zeit in einer Mail über eine seiner Verwandten, die „gefährlich linksradikal“ sei: „Kein Kontakt.“ Es klang fest entschlossen, daran nichts zu ändern. Was traurig ist, da Familien ein Hort des Zusammenhalts und der Geborgenheit sein sollten, gerade in Zeiten des Umbruchs, wie wir sie momentan erleben. Aber gerade zerfällt die Gesellschaft: Familien, Freunde und Kollegen sind zerstritten, weil sie anderer politischer Meinung sind. Was mit der Verrohung und dem Verlust der Debattenkultur zu tun hat und einhergeht.
Die Fähigkeit, die Meinung der anderen Seite anzuhören und das Andersdenken zu akzeptieren, geht verloren. Oft ziehen Leute die Reißleine, weil ihre innere Wut so drastisch ist, dass sie nicht anders können. Ich gebe zu, dass es auch mir schwerer fällt zu diskutieren als noch vor drei oder vier Jahren, weil Ignoranz, Irrationalität und leider auch die Dummheit in der Bevölkerung offenbar zunehmen. Das Internet versorgt die Massen bekanntlich mit Blödsinn aller Art. In gewisser Weise kann ich es verstehen, dass sich Leute nicht mehr mit bestimmten Äußerungen und politischen Positionen auseinandersetzen wollen.
Nämlich dann, wenn in einer Diskussion klar wird, der Kontrahent will in einem ganz anderen Land leben als man selbst, wenn die Ansichten sehr weit auseinanderliegen. Dann entzieht man sich lieber, auch weil es Angst macht. Wer will, dass Deutschland weiter seine Grenzen offen hält für alle Flüchtlinge, die kommen, wird sich kaum mit jemandem gedanklich in der Mitte treffen, der sie schließen und Remigration möchte. Nur was ergibt sich daraus? Polarisierung und Unverständnis, Streit und Zerwürfnisse. Der Riss durch die Gesellschaft wird tiefer und tiefer. Wir kriegen noch amerikanische Verhältnisse. Schaut man auf die Wahlergebnisse in Ost- und Westdeutschland, muss man sagen: Wir haben sie schon. Seit Jahren macht die Empfehlung die Runde: Man muss die Menschen abholen und mitnehmen. Aber wo soll das passieren, wenn man sich noch nicht mal auf einen Treffpunkt einigen kann? Wenn jemand felsenfest erklärt, in der BRD GmbH zu leben, oder irgendwer den Holocaust leugnet, ist es anstrengend und oft total aussichtslos, ihn vom Gegenteil überzeugen zu wollen. Wer so weit abgedriftet ist, den wird man nicht mit einem Gespräch überzeugen können, dass das alles Quatsch ist.
Debatten werden viel zu früh mit Vorwürfen abgewürgt
Die intellektuelle Verflachung und Überhitzung des Diskurses durch Emotionen machen das Ganze noch schwerer. Die Welt ist komplex wie nie zuvor, vor allem in der Politik fehlt es an Zeit und Geduld, Argumente und Problemlösungen zu diskutieren, zumal viel zu viel sofort im Rohzustand an Medien durchgestochen wird. Debatten werden abgewürgt, indem die berühmten Keulen geschwungen werden mit den Aufschriften „Rassismus“, „Rechtspopulismus“, „DDR-Nostalgiker“, „Putin-Versteher“ oder „Cancel Culture“. Die Resignation wächst auf beiden Seiten, ebenso werden die Vorwürfe heftiger. Die einen erklären die anderen für bekloppt. Immer wieder beschleicht einen das Gefühl von Parallelwelten. Zum Vorschein kam das jüngst in der Debatte über Julia Ruhs und ihre Absetzung als Moderatorin der Sendung „Klar“ beim NDR. (Im BR macht sie weiter.) 250 NDR-Mitarbeiter forderten im April in einem offenen Brief den Rausschmiss der 31-Jährigen. ´ Vorn dabei soll ein freier Journalist beim NDR gewesen sein.
Er hatte bei „Zapp“ einen Erklärungsversuch unternommen, warum Konservative angeblich zu kritischem Denken nur eingeschränkt fähig und stattdessen eher durch Gefühle erreichbar seien. Er berief sich auf eine niederländische Studie, die ergeben habe, dass die Gehirnstruktur von Konservativen anders ausgebildet sei, weshalb „progressiv-liberal denkende Menschen“ eher in der Lage seien, komplexe Sachverhalte nachzuvollziehen. Später entschuldigte er sich – Respekt dafür! – für die pauschale Aussage, der NDR löschte das Video. Der Journalist sagte: „Wir halten es bei Zapp grundsätzlich für falsch, mit dem Finger auf andere zu zeigen und zu sagen: ,Bäh, ihr seid doof und wir sind die Guten.’ Denn diese Lagerbildung, die wir gerade in dieser Gesellschaft beobachten, das ist ja genau das Problem, was wir haben und das wir eigentlich bekämpfen wollen.“
Die Deutschen sind dabei, die Kunst der Ausblendung zur perfektionieren
In dem erzkonservativen Magazin „Cicero“ erklärte Ruhs, mit den Kritikern im NDR persönlich nie Kontakt gehabt zu haben. Weder der Zapp-Mitarbeiter noch andere, „die öffentlich gegen mich Stellung bezogen haben, haben mich je angerufen oder das Gespräch gesucht. Für sie war ich eine Projektionsfläche: die böse Rechtspopulistin. Das hat mit meiner Realität nichts zu tun. Ich sehe mich in der Mitte der Gesellschaft.“ Jeder hat seine Wahrheit und lebt in seiner Realität. So war es schon immer. Nur sind die Deutschen gerade dabei, die Kunst der Ausblendung zur perfektionieren. Asylbewerber und Migranten werden entweder nur als Gefahr oder als Bereicherung wahrgenommen, um nur ein Beispiel zu nennen. Die Wahrheit liegt wie so oft in der Mitte. Aber noch nicht einmal darauf können wir uns verständigen.