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Down-SyndromDie kleine Schwester passt auf die große auf

Lesezeit 6 Minuten

Ein starkes Team: Antonia (l.) "übersetzt" häufig das, was Charlotte sagen möchte.

Köln – In der Woche nach dem Schulausflug sitzt Charlotte kerzengerade am Küchentisch, blättert hektisch durchs Aufgabenheft und ruft: "Morgen machen wir einen Schulausflug!" Nicht, dass das stimmen würde: Seit Charlotte sprechen kann, spricht sie über Sachen, von denen niemand genau weiß, ob sie wahr sind. "Ich melde mich gleich mal bei deiner Lehrerin", sagt Kerstin Wiesmann, "dann gucken wir mal, ob ihr wirklich schon wieder einen Ausflug macht. Der letzte ist doch erst ein paar Tage her." Charlotte ruft: "Wir machen morgen einen Ausflug!"

Charlotte ist neun Jahre alt, sie trägt Jeans mit kleinem Flicken auf dem rechten Bein, sie liebt Schokolade über alles, und das Spiel "Das verrückte Labyrinth". Und Katzen. Und sie hat das Down-Syndrom. Theoretisch heißt das, dass sie geistig behindert ist, ihr 21. Chromosom dreifach vorliegt. Praktisch heißt das, dass sie "ein ganz lebendiges, manchmal auch gemütliches, unendlich liebenswürdiges Mädchen ist", sagt Sascha Wiesmann. Der 43 Jahre alte Kaufmann ist Vater zweier Kinder: Charlottes Schwester Antonia ist sechs und ohne Behinderung zur Welt gekommen. Damit ist sie das kleinere, aber eigentlich das größere Kind in der Familie. "Antonia ist selbstständiger als Charlotte, fast mütterlich", sagt Sascha Wiesmann, und dann leiser: "Antonia passt auf Charlotte auf."

Charlotte kann sehr stur sein

Wie wird man zwei Kindern gerecht, wenn eines das Down-Syndrom hat? Zu viert sitzen die Wiesmanns um den eckigen Holztisch in der Küche eines Niehler Mehrfamilienhauses, Erdgeschoss, im Garten blüht Rhododendron. "Das Sture ist typisch für Charlotte", sagt Kerstin Wiesmann, wenn man sie an Regentagen fragt, inwiefern sich die beiden Kinder in ihrem Verhalten unterscheiden. Das Sture geht so: Charlotte hat morgens oft keine Lust sich anzuziehen. Sie will nicht aufstehen, nicht ins Bad, will auch nicht in die Schule, dritte Klasse, Waldorfschule Köln-Süd. "Es gibt fast jeden Morgen Streit. Charlotte ist immer so müde", sagt Kerstin Wiesmann. Charlotte ruft: "Ich bin nicht müde!"

Die Wiesmanns haben jetzt eine neue Regel eingeführt: Toastbrot gibt es erst, wenn die Kinder angezogen am Tisch sitzen. Das klappt soweit, sagt Kerstin Wiesmann. Aber es gibt auch vieles, das klappt eben nicht. Zu viert Fahrrad fahren ist unmöglich, weil Charlotte nicht radeln kann. Spazieren ist schwierig, weil Charlotte nicht gerne spaziert. Auf dem Spielplatz ist es schön, aber nur, wenn Charlotte nicht plötzlich "Ich gehe jetzt nach Hause" sagt und losläuft, ohne sich umzudrehen. Kino ist schön, aber nur, wenn Charlotte sich nicht plötzlich in die Hose macht. Und Schwimmen gehen ist auch schön, aber nicht, wenn Kerstin Wiesmann alleine ist mit den Kindern. "Das schaffe ich einfach nicht, das ist zu anstrengend", sagt die 46-Jährige, die in einer Apotheke arbeitet. Sie schaut hinüber zu Charlotte, die streicht sich mit den Händen über das T-Shirt und sagt: "Guck mal, das hier hab' ich von Ostern."

Charlotte ist mit ihrem Kopf nicht immer da, wo die anderen gerade sind. Wo Antonia Regeln akzeptiert, sind Charlotte die Konsequenzen ihres Handelns egal. Oder: Sie sind ihr nicht bewusst. "Ich weiß gar nicht, ob Antonia überhaupt versteht, was mit Charlotte los ist", sagt Kerstin Wiesmann. "Wir reden zwar darüber. Aber ob sie wirklich weiß, ich meine - ob sie sich vorstellen kann, was eine geistige Behinderung ist?"

Charlotte will zumindest so behandelt werden, wie ihre Schwester. Und umgekehrt: Was Charlotte kriegt, das will Antonia auch. Wenn Charlotte Belohnungskärtchen bekommt, weil sie sich die Zähne geputzt hat - dann will Antonia auch solche Kärtchen. Wenn Charlotte zur Sprachtherapie geht, und Oma ihr anschließend ein Eis spendiert, dann will Antonia auch zur Therapie. Und auch ein Eis. "Antonia muss oft zurückstecken. Und beschwert sich deswegen auch manchmal", sagt Sascha Wiesmann, Antonia sitzt auf seinem Schoß, schmiegt ihren Kopf an seine Brust. "Mit Antonia ist uns einiges bewusst geworden." Zum Beispiel, dass die Eltern die Entwicklung von Charlotte lange als Maßstab sahen. "Antonia kam uns früher immer vor wie ein Überflieger, dabei ist sie einfach nur nicht behindert", sagt Sascha Wiesmann.

Zum ersten Mal zu zweit im Urlaub

Charlotte hüpft durch den Garten, Antonia hüpft mit. Sie hat ihre große kleine Schwester im Blick. Sie beobachtet sie, kriecht abends oft zu ihr ins Bett, dann schlafen beide unter einer Decke. Vor einigen Wochen fuhren sie das erste Mal ganz ohne die Eltern in den Urlaub: Für fünf Tage waren sie im Familienzentrum Dankern in Haren an der Ems. Am 17. Mai nehmen beide an der Geschwisterolympiade des Deutschen Down-Sportlerfestivals in Frankfurt teil: Dann rennen sie beim Staffellauf um die Wette, werfen Dosen, spielen Basketball. Antonia wird Charlotte vielleicht gewinnen lassen. Das macht sie jetzt schon oft - mindestens so oft, wie sie Charlotte austrickst, sagt Sascha Wiesmann. Wenn die Mädchen "Das verrückte Labyrinth" aufbauen, legt Charlotte die Karten so aufs Spielbrett, dass alle Wege frei sind. Antonia räumt hinterher, dreht die Karten um: "So ist es doch viel zu einfach, Charlotte!"

Antonia versteht ihre Schwester besser als jeder andere, "sie ist Dolmetscherin, schlüpft auch deswegen oft in eine Vermittlerrolle. Das entlastet uns", sagt Kerstin Wiesmann. Manchmal klingt es so, als würde Charlotte Kauderwelsch reden, weil sie murmelt und gleichzeitig Worte verschluckt. Nach jedem Satz wiederholt einer aus der Familie, was sie gesagt hat. Wie ein Echo. Sonst würden Fremde gar nicht mitkommen, sagt Sascha Wiesmann.

Wie sie beide da lachend und glucksend durchs Grün hüpfen, Charlotte und Antonia, um ihre Eltern herum, da sieht das aus wie das Glück. Das Glück, nur nicht so, wie Kerstin und Sascha Wiesmann sich das vorgestellt hatten: Als Charlotte im September 2004 zur Welt kam, bemerkten die Ärzte zunächst nur einen Atemfehler. Das Baby wurde in eine Kinderklinik verlegt, auf alles getestet, auf das man testen kann. Nach drei Wochen hieß es: Charlotte hat das Down-Syndrom. Und nach weiteren neun Monaten: Charlotte hat kreisrunden Haarausfall. Eine Krankheit, die ganz unabhängig vom Down-Syndrom auftreten kann. Wenn Kerstin Wiesmann sich daran erinnert, in Worte fasst, was damals kaum fassbar war, dann klingt ihre Stimme stark und fest, genau wie sonst. "Charlotte ist mittlerweile ein bunter Hund hier. Jeder in der Nachbarschaft kennt sie", sagt sie. Die vielen Sorgen, die nach Charlottes Geburt wie ein Orkan auf die Wiesmanns zusteuerten, haben sie nicht umgehauen. Sie haben die Situation von Anfang an so gestaltet, dass sie möglichst wenig schmerzt. Indem sie sie akzeptiert haben - und daran sind sie gewachsen. "Hätte ich vorher gewusst, dass Charlotte das Down-Syndrom hat, hätte ich sie nicht haben wollen. Als sie dann da war" - und jetzt macht Sascha Wiesmann eine kleine Pause - "da habe ich gemerkt, dass ich mir kein besseres Kind hätte vorstellen können."