Neid und RivalitätWarum es zwischen erwachsenen Geschwistern oft problematisch ist

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Konkurrenzkampf geht weiter: Manche Geschwister führen ihre Konflikte aus der Kindheit im Erwachsenenalter weiter.

Konkurrenzkampf geht weiter: Manche Geschwister führen ihre Konflikte aus der Kindheit im Erwachsenenalter weiter.

Susann Sitzler ist Journalistin und hat ein Buch über Geschwister geschrieben. Isabell Wohlfarth hat mit ihr gesprochen.

Frau Sitzler, warum ist die Beziehung zwischen erwachsenen Geschwistern oft so problematisch?

Weil sie Konflikte aus der Kindheit im Erwachsenenalter weiterführen. Unter Geschwisterkindern haben Neid und Rivalität in der Regel noch spielerischen Charakter. Sie gehören sogar dazu. Wenn man diese Streitpunkte aber auf Dauer nicht löst und sich nicht abzugrenzen lernt, kann sich das ins spätere Leben weitertragen. Dann fechten Geschwister einen kindlichen Kampf aus, aber mit den Mitteln und der Ernsthaftigkeit eines Erwachsenen.

Dann liegt einem Streit zugrunde, dass einer damals der Geschwister immer „Papas Liebling“ war…?

Dass eines von den Eltern bevorzugt wurde, ist natürlich der Klassiker unter den Vorwürfen. Ein solcher Eindruck hat aber häufig mit der eigenen Sicht zu tun. Wenn man als Erwachsener diese Dinge gemeinsam mit den Geschwistern noch einmal reflektiert, zeigt sich vielleicht, dass der „Liebling“ selbst total darunter gelitten hat, weil er Vorbild sein und immer alles super machen musste. Dass das, was die einen als Privileg erlebt haben, der andere vielleicht sogar als Last empfunden hat. Oft ist es den Geschwistern auch gar nicht bewusst, dass sie in einem früheren Stadium von sich selbst feststecken – und den Bruder oder die Schwester vielleicht gar nicht so sehen, wie er oder sie wirklich ist.

Was kann in dem Fall helfen?

Mit seinen Geschwistern erwachsen zu werden, bedeutet auch, die Rollen, die man als Kind hatte, zu hinterfragen. Zu verstehen, dass vieles damit zu tun hat, was die Eltern den Kindern an Eigenschaften zugeschrieben haben. Davon sollte man sich lösen. Und sich fragen: Wer ist der andere eigentlich wirklich? An diesem Punkt entscheidet es sich, ob daraus eine erwachsene Beziehung werden kann oder es eine kindliche bleibt.

Muss man dafür mit den Geschwistern ins Gespräch kommen?

Man kann es grundsätzlich auch mit sich selbst lösen, aber es hilft natürlich ungeheuer, wenn Geschwister miteinander sprechen. Einmal anzuhören, was der andere denkt oder wie er die Situation beurteilt. Gerade bei Geschwisterbeziehungen ist es aber häufig so, dass viele dieser Konfliktpunkte unausgesprochen und unreflektiert bleiben, weil sie oft nicht bemerkt werden. An Weihnachten bei den Eltern verfallen Geschwister vielleicht sofort in die alten Rollen, stellen das aber nicht in Frage.

Woran entzünden sich brodelnde Geschwistergefühle im Erwachsenenalter dann oft?

Wenn die Eltern alt werden oder sterben und es um Grundsatzentscheidungen zu Pflege oder Erbe geht, also die Kinder plötzlich in die Verantwortung kommen, dann brechen die Konflikte oftmals richtig auf. Das Problem ist, dass genau dann die Zeit drängt und schnelle Entscheidungen getroffen werden müssen. Es ist kein Raum da, um sich mit seinen Geschwistern an einen Tisch zu setzen und eine Beziehung zu klären.

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Verschärft der Druck, zusammenarbeiten zu müssen, dann die alten Geschwister-Probleme?

Häufig ja. Und dann eskalieren die Beziehungen. Die Zuschreibungen und Vorurteile aus der Kindheit verselbstständigen sich. Die Schwester denkt vielleicht: „Immer muss ich alles machen!“. Der Bruder: „Immer bestimmt die!“

Warum sind Emotionen zwischen Geschwistern so extrem?

Mit dem Geschwister lernt man als Kind die allermeisten Gefühle zum ersten Mal kennen. Das ist die erste Beziehung auf Augenhöhe. Hier können Kinder in sicherem Rahmen üben, sich abzugrenzen, zu konkurrieren, zu streiten. Für Kinder ist ja alles immer total ernst, sie können noch nicht distanzieren. Jedes Gefühl ist hundert Prozent präsent. Erwachsene können sich normalerweise besser regulieren. Ist aber der Bann schon gebrochen, wie es bei Geschwistern der Fall ist, dann geht man in der Regel nicht mehr dahinter zurück. Weil man sich vertraut ist und es einfach immer so gemacht hat. Und dann brüllt und kämpft man wie früher. Diese emotionale Wucht kann eine Beziehung zerstören.

Kann auch die Liebe ein Grund sein, warum Geschwister sich so intensiv streiten?

Ich würde eher sagen, es hat mit dem Vertrauen zu tun, dass der andere da ist und bleibt. Es ist nicht automatisch so, dass alle Geschwister sich lieben. Das ist eher ein Ideal. Aber das Vertrauen entsteht relativ unweigerlich. Und das ist auch der Grund, warum man beim Streiten mit Geschwistern in die Vollen geht.

Stichwort „der bleibt da“ – ist nicht auch die Angst berechtigt, dass man sich verliert?

Man kann ja Geschwister in dem Sinne nicht verlieren. Man kann den Kontakt abbrechen. Doch der andere bleibt immer ein Geschwister. Es ist vielleicht keine Beziehung, auf die ich im Alltag setze, aber das Verhältnis bleibt.

Manche Geschwister haben kein übermäßiges Interesse am anderen – vielleicht weil sie einfach so unterschiedlich sind. Sollte man das trotzdem intensivieren?

Das muss jeder persönlich entscheiden. Es ist aber nicht so, dass man automatisch miteinander kann, nur weil man miteinander aufgewachsen ist. Manche Geschwisterbeziehungen dümpeln so dahin. Auch das ist in Ordnung. Geschwisterliebe ist ein Glück und ein Geschenk, aber nicht selbstverständlich. Häufig ist es so, dass Geschwister, wenn sie selbst Kinder kriegen, die Verbindung wieder intensivieren. Weil sie sich wünschen, die Schwester oder den Bruder als Tante oder Onkel im Leben der Kinder zu haben. Das Verhältnis wird dann eher rituell gepflegt. Manche finden ihr Geschwister aber so schräg oder langweilig, dass sie diesen Menschen nicht als Bezugsperson für die Kinder haben wollen.

Also muss man nicht jede Geschwisterbeziehung pflegen?

Viele zweifeln daran, ob sie sich von ihrem Bruder oder ihrer Schwester distanzieren dürfen. Aber klar ist, dass auch eine Geschwisterbeziehung einen beschädigen kann, wenn etwa schwere Konflikte nicht lösbar sind. Dann ist es sinnvoller, auf Distanz zu gehen. Sehr häufig spielt hier auch die Erwartung der Eltern eine Rolle, ihr Wunsch, dass Geschwister guten Kontakt miteinander haben sollen. Das kann aber paradoxerweise Geschwisterkonflikte noch verstärken.

Birgt die Abwesenheit der Eltern die Chance, zusammenzurücken oder sich zu lösen?

Genau das sind die beiden Optionen, die auftreten, sobald die Eltern ihre Definitionsmacht verlieren. Häufig kommt die Klärung dann, wenn man sich von den Zuschreibungen der Eltern löst. Oder wenn sie sterben. Nach dem Grundsatz: „Jetzt kann ich selber bestimmen, was ich in dieser Familie sein will!“ Es kann sein, dass sich Geschwister dann neu kennenlernen. Oder einfach kein Interesse mehr aneinander haben.

Es gibt auch Geschwister, die sich als Erwachsene gut verstehen. Welche Chance steckt in der Geschwisterbindung?

Es ist eine ganz tiefe, komplexe Beziehung, die das ganze Leben umfasst. Es ist ein großer Schatz, einen Menschen zu haben, der einen so lange kennt. Geschwister sind auch eine Art Familienarchiv, sie teilen Erinnerungen. Und es ist eine sehr entwicklungsfähige Beziehung. Man kann miteinander ganz viele Phasen durchlaufen. Allein schon deswegen lohnt es sich, sich auch später nochmal neu kennenzulernen. Man lernt auch viel über sich selbst. Und wenn es gut läuft, können Geschwister auch Super-Freunde werden.

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