Geburt im KomaWie ein Vater und seine Tochter trauern gelernt haben

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Leben mit Marie

Symbolbild

  • Sebastian Fischer verlor seine Ehefrau kurz nach der Geburt der gemeinsamen Tochter.
  • Eine Mittelohrentzündung entwickelte sich zur Hirnhautentzündung, Lisa Fischer fiel ins Koma.
  • „Meine Frau ist tot, dieser Preis ist nicht verhandelbar“, sagt er.

Köln – Manchmal macht Marie Dinge, die ihre Mutter auch getan hat. Vor kurzem hat das dreijährige Mädchen am Tisch auf einmal langsam und mit ganz tiefer Stimme gesprochen, weil es die Aufmerksamkeit auf sich ziehen wollte. „Das hat meine Frau immer gemacht, wenn sie das Gefühl hatte, dass ihr niemand zuhört“, sagt Maries Vater, Sebastian Fischer (alle Namen geändert).

Marie hat ihre Mutter Lisa nie kennengelernt, deshalb staunt ihr Vater jedes Mal, wenn sie trotzdem ganz spezielle Dinge tut, die so typisch für seine Frau waren. Lisa Fischer wurde schwer krank, als sie mit Marie schwanger war. Als das Mädchen 2016 per Kaiserschnitt auf die Welt geholt wurde, drei Monate zu früh, lag Lisa Fischer im Koma und wurde nur noch von Maschinen am Leben gehalten. Drei Tage nach Maries Geburt stellten die Ärzte die Maschinen ab.

Leben zersprang innerhalb von zehn Tagen in 1000 Teile

Sebastian Fischer war 28 Jahre alt und allein mit dem winzigen Mädchen, seinem ersten Kind, das er in einer Edelstahl-Schüssel baden konnte, „in der man eigentlich einen kleinen Salat waschen würde“, wie er sagt. Marie wog 927 Gramm und war 34 Zentimeter groß. „Sie sah mehr wie eine Puppe aus mit ihrer transparent-hellen Haut, nicht wie ein Mensch.“

Innerhalb von zehn Tagen ist Fischers Leben damals völlig unerwartet in 1000 Teile zersprungen. In diesen zehn Tagen bekam seine schwangere Frau eine Mittelohrentzündung, die sich zu einer bakteriellen Hirnhautentzündung entwickelte. „Montags waren wir das erste Mal im Krankenhaus, freitags fiel sie ins Koma, sonntags war der Kaiserschnitt und drei Tage später wurde meine Frau für hirntot erklärt“, sagt Fischer.

25 Jahre alt und eigentlich kerngesund

„Wie soll ihre Tochter heißen?“, fragte eine Ärztin ihn kurz nach dem Kaiserschnitt. Fischer antwortete ohne nachzudenken: „Lisa.“ Wie seine Frau. Dabei hatte er da noch gar nicht realisiert, dass seine Frau sterben würde, sagt er. Sie war ja gerade 25 Jahre alt, und eigentlich kerngesund. Die beiden waren seit neun Jahren zusammen. „Auch als die Ärzte gesagt haben, dass es aussichtslos ist, habe ich nicht ans Sterben gedacht. Man klammert sich an Kleinigkeiten, da waren ja noch Restströme im Gehirn, ich dachte dann: Da ist doch noch Leben.“

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Marie ist jetzt der Zweitname seiner Tochter, weil es der Wunschname des Paares für ein Mädchen war. Als seine Frau ins Koma fiel, wusste sie nicht, dass es ein Mädchen wird, weil das Geschlecht des Kindes auf den Ultraschallbildern nie zu erkennen gewesen war. „Irgendwie war ihr aber immer klar, dass sie eine Tochter bekommt“, sagt Fischer. „Sie hat es wohl gespürt.“

Das Klavier steht immernoch im Wohnzimmer

Die nächsten drei Monate verbrachte Fischer mit seiner Tochter im Krankenhaus in Köln-Holweide und in der Kinderklinik in Niehl. „Die ersten Tage waren sehr unsicher, Marie musste beatmet werden, sie war durch die Sedierung meiner Frau auch komatös“, sagt Fischer. Die Ärzte konnten nicht sagen, ob das Frühchen überhaupt lebensfähig sein würde. „Marie hatte immer wieder Atemaussetzer, dann piepten die Geräte wieder laut“, sagt Fischer. Die Schwestern hatten ihm gezeigt, was dann zu tun sei: Fischer legte dann seine Hand vorsichtig auf den kleinen Brustkorb, er nahm Maries Füße in die Hand und streichelte und drückte sie ein wenig – das reichte oft, damit das Mädchen wieder atmete.

Als Marie zweieinhalb Kilo schwer war, durfte Fischer sie mit nach Hause nehmen. In das hübsche Haus im Oberbergischen, in dem ihn alles an seine Frau erinnerte. Ihr Klavier steht auch heute noch im Wohnzimmer. Fischer fällt es schwer, es jeden Tag zu sehen, aber er will es für Marie verwahren. Dass seine Frau tot ist, realisierte er erst, als er bei ihrer Beerdigung in das Loch blickte, das dann mit Erde zugeschüttet wurde. Das erste Weihnachten ohne sie kam, und er pflanzte eine Zuckerhutfichte auf ihr Grab, weil sie Weihnachten so liebte. Die Lichterkette ist jeden Abend an.

Junge Trauernde fühlen sich oft allein

Viele Monate lang funktionierte er nur irgendwie, ohne wirklich zu leben. Er musste es ja, war mehr Roboter als Mensch, wie er sagt. „Man fühlt sich, als würde man zusammenklappen, aber irgendwie geht es jeden Tag weiter“, sagt er. Freunde und Familie waren für ihn da, sie sagten ihm: Du brauchst Hilfe, so etwas kann man nicht allein verarbeiten. Fischer war aber niemand, dem es leicht fiel, über seine Gefühle zu sprechen, schon gar nicht mit einem Therapeuten, einem Fremden.

Die Trauer packte ihn immer wieder. Und er spürte, dass er es nicht allein schaffen würde. Zuerst suchte er sich Hilfe bei „Dellanima“, einem Institut für Trauerbegleitung. Neben der Einzeltherapie dort fand Fischer im Verein „Jung verwitwet“ andere junge Menschen, die jemanden verloren hatten. Sie wussten, wie er sich fühlt.

Und er lernte, über alles zu sprechen, wie er heute sagt. Darüber, wie es ist, wenn das Leben der anderen weitergeht. Wenn sie Familienurlaube planen, das zweite Kind kriegen. „Man steht dann da und hat das eben nicht“, sagt Fischer. „Das ist kein Neid, aber ich hab die Trauer da jedes Mal nochmal anders durchlebt.“ Junge Trauernde fühlen sich auch deshalb allein, weil gleichaltrige Freunde kaum Erfahrungen mit Todesfällen oder Schicksalsschlägen haben.

Trauer kommt in Wellen immer wieder

Die Zeit verging, aber die Traurigkeit blieb. Beim Männerstammtisch des Trauerinstituts lernte Fischer schließlich Männer kennen, die wie er ihre Frau oder ein Kind verloren hatten. „Ich habe dort gelernt, dass die Trauer wie Wellen kommt, immer wieder.“ Fischer hat auch gelernt, auf sich selbst zu hören und sich zu distanzieren, wenn er am Todestag seiner Frau oder am Hochzeitstag nicht mit denen zusammen sein kann, die ihr am nächsten standen.

Einmal hat er an Weihnachten die komplette Küche neu foliert, um sich abzulenken. Und er baute Marie ein Hochbett in einen Wohnwagen und verreiste mit ihr – das hatten Lisa und er für die ersten Wochen nach der Geburt geplant. Eine Hebamme und eine Haushaltshilfe hatten ihm vorher das Nötigste beigebracht. „Ich muss sagen, dass meine Frau fast alles gemacht hat, ich konnte nicht gut kochen.“

Wer denkt bei einer Mittelohrentzündung schon an den Tod?

Wenn ein Mensch nach längerer Krankheit stirbt, haben die Angehörigen längst angefangen zu trauern. „Die Trauerprozesse beginnen, wenn die Person noch da ist“, sagt Fischer. Auch das hat er in der Trauergruppe gelernt. Aber wer denkt bei einer Mittelohrentzündung schon an den Tod? Als Lisa ins Koma fiel, waren sie noch zu Hause und der Notarzt unterwegs. „Ich dachte erst, es ist ein gutes Zeichen, dass sie endlich schlafen und sich ausruhen kann“, sagt Fischer.

Marie hat ihn irgendwann gefragt: „Wo ist meine Mama?“ Fischer nahm sie von Anfang an mit ans Grab, um ihr den Tod der Mutter irgendwie zu vermitteln. Marie erzählte dann im Kindergarten: „Meine Mama ist auf dem Friedhof.“ Fischer sagt: „Das ist kein schöner Text für eine Dreijährige.“ Heute weiß Marie, dass der Friedhof nur ein Ort ist, an dem sie an ihre Mutter denken. Sie bastelt Sterne und hängt sie an Weihnachten an die Zuckerhutfichte. Ihr Vater zeigt ihr Fotos und Videos von Lisa, die als Kind genauso aussah wie Marie.

Gelernt, zu akzeptieren, was geschehen ist

Das Klavier, ein paar abgetretene weiße Chucks, ihre Lieblingstaschen – Fischer verwahrt viele Sachen seiner Frau für seine Tochter auf, damit Marie irgendwann verstehen kann, wie ihre Mutter war.

Einmal hat seine Frau ein Loch im Garten ausgehoben, als Fischer auf Geschäftsreise war. 20 Quadratmeter groß, 30 Zentimeter tief. Sie schickte ihm ein Foto und schrieb: „Das Loch ist da, also bauen wir jetzt eine Terrasse.“ Ein anderes Mal verputzte sie den kompletten Flur neu, als sie allein zu Hause war. „Sie hat sich das alles selbst beigebracht, einfach angefangen und ausprobiert – das mochte ich sehr an ihr“, sagt Fischer.

Aus einem alten Schuhregal aus Kindertagen hat Lisa ein Holzgestell gebaut, das ein Blumenbeet werden sollte. Und noch vor Maries Geburt wollte sie eine kleine Steinmauer an den Bach bauen, zum Schutz. Fischer hat fertig gebaut, was sie begonnen hatte. Er hat einen Steinsockel unter das Holzgestell gesetzt, in dem nun Blumen wachsen. „Das steht stabil“, sagt er. Er hat gelernt, zu akzeptieren, was geschehen ist. „Meine Frau ist tot, dieser Preis ist nicht verhandelbar“, sagt er. Aber Marie lebt.

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