„Es geht voran“So hat Housing First das Leben eines Kölner Obdachlosen verändert

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Selbst gebaut hat Frank Emig (vorne) den Schrank in einer Nische seiner neuen Wohnung. 

Selbst gebaut hat Frank Emig (vorne) den Schrank in einer Nische seiner neuen Wohnung. 

Ausgehalten haben sie es beide nicht. Nicht Frank Emig, der Monteur, und nicht Kai Hauprich, der Sozialarbeiter. „Wir standen in der neuen Wohnung, für einen Moment. Dann mussten wir erstmal wieder raus. Das war heftig. Sonst wären uns die Tränen gekommen.“

Sieben Menschen haben die Chance auf ein neues Leben

Frank Emig ist 60 Jahre alt und war 34 Jahre lang wohnungslos. Gearbeitet hat er fast immer, gelebt in Monteurszimmern, Notschlafstellen, seinem uralten Minicooper. Am 16. November vergangenen Jahres hat er ein 35-Quadratmeter-Appartement in Braunsfeld bezogen. Als einer von sieben bis dahin obdachlosen Menschen, die durch das Projekt Housing First jetzt eine kleine Wohnung für sich alleine haben. Der Gedanke: Menschen, die ihr Leben eigenverantwortlich verändern wollen, sollen durch eine Wohnung und professionelle Unterstützung die Chance bekommen, das zu tun.

Es wirkt wie ein Reißschwenk durch die Vergangenheit, wenn Frank Emig erzählt. Der Lohn von der insolventen Firma bleibt aus, er verliert seine Wohnung, nichts ist mehr, wie es war. Der 26-Jährige findet neue Jobs, schläft in Monteurszimmern, findet sich „erstmal damit ab“. Ist der Job zu Ende, ist das Zimmer weg. Dann lebt er in Zwei- oder Dreibettzimmern in Hotels, die die Stadt obdachlosen Menschen zuweist.

Das Leben als Endlosschleife

Manche Jobs verliert er, weil er nicht schlafen kann. „In den Hotels sind viele alkoholabhängig oder psychisch krank. Es gibt Gewalt“, sagt er. „Man bleibt nach der Arbeit auf der Straße, geht erst spätabends hin.“ Ein neuer Job, ein Zimmer für 30 Euro die Nacht, viel bleibt ihm nicht von seinem Lohn als Zentralheizungsbauer. Dann wieder ins Hotel. Das Leben als Endlosschleife.

So ein Leben hält man nur aus, wenn man Kraft hat. Viel Kraft. Und einen Beruf, den man liebt. „Die Arbeit hat mich hochgehalten“, sagt Frank Emig. Ein Herzinfarkt und zwei Stents zeugen davon, wie hart das Leben auf der Straße ist. Immer wieder versucht der hochgewachsene Mann , eine Wohnung zu bekommen. „Ohne Wohnung, das ist kein Leben“, sagt er. Doch ohne feste Adresse, mit dem Jobcenter als Mietzahler hat er keine Chance auf dem Wohnungsmarkt.

Endlich eine neue Perspektive

Im Herbst stößt der 60-Jährige auf das Projekt Housing First. Er hat endlich einmal Glück, bekommt das letzte freie Appartement. Zusammen mit Sozialarbeiter Kai Hauprich vom Vringstreff wickelt er die Formalitäten fürs Jobcenter ab. „Gleichzeitig hab’ ich auf Probe gearbeitet“, erinnert er sich. Seine Nerven liegen blank vor lauter Angst, dass noch irgendwas schiefgehen könnte.

Ist es nicht. „Jetzt sehe ich nur noch nach vorn“, sagt er. Das Wichtigste ist ihm, „endlich wieder ein Sozialleben haben, an einem festen Ort, Nachbarn und Freunde“. Er packt die Dinge an, wie so oft in seinem Leben, meldet sich zur Weihnachtsfeier im Clarenbachstift an, feiert dort mit. Und überlegt, wie er seine kleine Wohnung so kostengünstig wie möglich einrichten kann.

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„Entscheiden, wie das eigene Leben aussehen soll. Das ist es, was Housing First ermöglicht“, sagt Kai Hauprich. „Housing First ist ein Anfang. Es macht nicht automatisch reich, gesund und glücklich. Aber es gibt Menschen die Chance, wieder ein Gefühl für das eigene Leben zu bekommen. Und dafür, dass sie ihre Zukunft selbst gestalten können.“

Frank Emig hat sich entschieden, möglichst viele Möbel vom Sperrmüll aufzuarbeiten und sich seine kleine Küche selber zu bauen. Neu kauft er sich nur ein Bett, bei Ikea. „Ich mache jeden Tag etwas“, sagt er. Man müsse sich erstmal organisieren – einkaufen, kochen, Wäsche waschen. „Du kaufst dir Sachen und räumst sie in den Kühlschrank. Das ist schön. Jedes Mal wieder neu“, sagt er.

Eigenverantwortung und professionelle Hilfe

Das Housing-First- Konzept setzt auf Eigenverantwortung. Obdachlose Menschen erhalten als Mieter eine Wohnung. Dazu wird ihnen professionelle Hilfe angeboten, um die Wohnung zu halten und selbst formulierte Ziele zur Gestaltung ihres Lebens zu erreichen. Diese Hilfen nehmen alle sieben Kölner Housing-First-Mieter regelmäßig wahr.

Seit den 1990er Jahren gibt es Housing First in den USA . Derzeit wird es etwa in Berlin, Münster, Stuttgart, Hamburg und Düsseldorf umgesetzt; hier gab es 2020 bereits 60 Wohnungen. In Köln beteiligt sich neben dem Vrings-treff (zwei Wohnungen) die katholische Aachener Siedlungs- und Wohnungsgesellschaft mit vier Wohnungen an den Projekt. Die Wohnungen des Vringstreffs wurden vom Erlös von Bildern mitfinanziert, die der Künstler Gerhard Richter zugunsten des Projektes gespendet hatte.

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Euro pro Monat zahlt die Stadt dafür, einen obdachlosen Menschen im Hotel unterzubringen; im Schnitt 38 Euro pro Tag. Die Wohnungen von Housing First kosten ihre Mieter 350 Euro kalt. Zur Unterbringung wohnungsloser sowie geflüchteter Menschen ist die Stadt gesetzlich verpflichtet. 1358 Menschen hat sie 2021 (Stand Februar) in Hotels einquartiert; für 1,5 Millionen Euro pro Monat.

Wohnungen gesucht: „Der Vringstreff begleitet den Prozess, es gibt keine Probleme. Damit wollen wir Vermieter überzeugen, an wohnungslose Menschen zu vermieten“, so Kai Hauprich. Wer Housing First unterstützen möchte, erreicht ihn unter Ruf 0176-7281250.

www.vringstreff.de

Aber es kommen auch schwere Gedanken: Kann ich den Nachbarn sagen, dass ich auf der Straße gelebt hab’? Wie ist es, ganz allein in einer Wohnung zu sein? „Um mit den letzten 20 Jahren besser klar zu kommen“ entscheidet er sich, eine Verhaltenstherapie zu machen. Er hat Alpträume. Auch solche, in denen er wieder ohne Wohnung ist.

Der Chef war auch schon zu Besuch

„Erst mit einer Wohnung bleibt Kraft übrig, sich Schritt für Schritt seinen Problemen zu stellen. Und etwas zu verändern“, sagt Kai Hauprich. „Aber bisher verlangen wir von obdachlosen Menschen, dass sie unter schwierigsten Lebensbedingungen eine Hochleistung erbringen und eine Wohnung finden sollen. Das können sie nicht schaffen.“

Für Frank Emig ist seit Mitte November vieles in Bewegung gekommen. „Es geht voran für mich“, sagt er. Einmal in der Woche trifft er sich mit Kai Hauprich, zum Reden oder wenn er Unterstützung braucht. Die Firma hat ihn nach dem Probearbeiten übernommen. Sein Chef war auch schon zu Besuch. „Ohne ihn und den Vringstreff hätte ich das nie geschafft“, sagt der 60-Jährige. Man spürt den Druck aus dieser Zeit, wenn er erzählt.

Dann ändert sich seine Körperhaltung. Er lächelt. „Ich freue mich aufs Frühjahr. Wenn ich mit meiner Freundin auf meinem kleinen Balkon sitzen kann.“ Bis dahin will er auch Bilder und Blumen haben. „Von Hartz IV ist das nicht drin. Aber da bin ich ja bald raus.“ Und er sagt den Satz nochmal, der ihm so wichtig ist. „Es geht in meinem Leben endlich voran.“

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