Dennis Shepherd erkrankte vor sechs Jahren nach einer Not-OP an einem Delir mit Halluzinationen. Heute kehrt der 34-Jährige regelmäßig ins St. Vinzenz-Krankenhaus zurück – als Ehrenamtlicher im bundesweit ausgezeichneten Delir-Team.
Kölner erkrankt an Delir„Ich hatte den Bezug zur Realität verloren“

Um die Privatsphäre der Delir-Betroffenen in seiner Betreuung zu schützen, hat Dennis Shepherd ein Gespräch mit einer Kollegin aus dem Team nachgestellt.
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Dennis Shepherd entspannt sich auf dem Balkon seines Krankenhauszimmers, als überall neben ihm Steine in die Hauswand einschlagen. Im Innenhof protestieren Aktivisten gegen die Abholzung von Bäumen und wollen mit den Geschossen Aufmerksamkeit erregen. Ob das nicht etwas gefährlich sei, fragt der damals 28-Jährige eine Pflegerin - die ihn aber nur fragend anguckt. Denn niemand außer Shepherd kann die Protestaktion sehen.
Der Kölner erkrankte vor rund sechs Jahren an einem Delir, also einer akuten Verwirrtheit, die neben Halluzinationen vor allem zu Symptomen führt, die denen einer Demenz ähneln. Alles begann mit einer Not-Operation im St. Vinzenz-Krankenhaus in Nippes, bei der er viel Blut verlor und danach in ein künstliches Koma versetzt werden musste. Über eine Woche nachdem er aufwachte, hatte er Halluzinationen.
„Ich erinnere mich heute noch an die Erlebnisse, für mich waren sie sehr real“, erzählt Shepherd (34), der heute in das St. Vinzenz zurückgekehrt ist. Das tut er mittlerweile rund zweimal im Monat. Denn als Ehrenamtler engagiert er sich dort im „Delir-Team“, das seit 2018 Betroffene betreut und Prävention betreibt.
Lange wurde das Delir unterschätzt. Heute weiß man, dass es eine genauso hohe Sterblichkeitsrate hat, wie ein Herzinfarkt.
Initiatorin des Projekts ist die Pflegefachkraft und Demenz- und Delirbeauftragte des Krankenhauses Janine Maaßen. Nicht nur drei Ehrenamtliche und eine festangestellte Betreuungsassistentin, sondern auch mehrere ärztliche Expertinnen und Experten aus den Bereichen Anästhesie, Intensivmedizin und Schmerztherapie sind mittlerweile Teil des Teams. Darunter sein auch die Mitinitiatoren Philipp Nagel und Dr. Carsten Böning. Das Delir-Team sei bundesweit etwas sehr besonderes: „Wir wurden vom Delirnetzwerk e.V. als Leuchtturmprojekt ausgezeichnet“, freut sich Maaßen.

Janine Maaßen
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Auch Shepherd wurde während seiner Zeit im St. Vinzenz teils von entsprechend geschulten Pflegekräften betreut. Dass er ein Delir durchlebt hat, verstand er aber erst, als er rund drei Jahre nach seiner OP die Schulung zum Delir-Helfer im St. Vinzenz machte. Von dem Syndrom hatte er bis dahin noch nie gehört. „Ich wollte neben meinem Teilzeitjob einfach ein Ehrenamt in dem Krankenhaus übernehmen, weil dort so gut mit mir umgegangen wurde und ich etwas Sinnvolles tun wollte. Und im Delir-Team wurde gerade gesucht.“
Denn mit seinen Erlebnissen ist der Kölner bei weitem nicht allein. „Wir betreuen im Schnitt täglich 25 Patientinnen und Patienten, die kognitiv auffällig sind“, erklärt Maaßen. In Analysen, die mehrere Studienergebnisse zusammenfassen, liege die Gesamtzahl der Delir-Fälle in Deutschland bei hospitalisierten Patienten zwischen 10 und 30 Prozent und bei beatmeten und kritisch kranken Intensivpatienten bei bis zu 70 Prozent. Demnach sind jährlich Hunderttausende betroffen.
Der Fall von Dennis Shepherd ging glimpflich aus. Sein Delir verschwand von selbst. „Man kann durch ein Delir aber auch dauerhaft Folgeschäden davontragen“, warnt Maaßen. „Ab Minute 1 gibt es dafür ein erhöhtes Risiko.“ Das Syndrom könne zudem tödlich enden. „Lange wurde das Delir unterschätzt. Heute weiß man, dass es eine genauso hohe Sterblichkeitsrate hat, wie ein Herzinfarkt.“
Delir kann alle Altersgruppen treffen
Die meisten Betroffenen seien über 65 Jahre alt. Doch grundsätzlich gelte: „Ein Delir kann alle Altersgruppen treffen.“ Halluzinationen sein dabei nur eines von vielen Symptomen. „Die Leute sind dann antriebslos, haben Gedächtnislücken oder Sprachstörungen. Es tritt regelrecht eine Wesensveränderung ein. Angehörige sagen dann oft, die Betroffenen seien nicht mehr die Person, die sie bis gestern noch waren.“
Als Auslöser eines Delirs gelten mittlerweile mehrere Faktoren, sagt die Expertin. „Früher dachte man, die Narkose würde das Syndrom auslösen. Aber eine OP allein ist nie der Grund. Wir stellen stattdessen häufig fest, dass starke Schmerzen die Ursache des Delirs sind.“ Deshalb könne zum Beispiel auch eine Blutvergiftung zu einem Delir führen. Aber auch alles, was zu einer Desorientierung beiträgt, könne ein Delir auslösen. „Vor einer OP muss man oft lange nüchtern bleiben und hat nach dem Aufwachen einen ganz anderen Lebensrhythmus als zuhause“, erklärt Maaßen. Dennis Shepherd erinnert sich noch gut daran: „Vor allem auf der Intensivstation habe ich den Bezug zur Realität verloren. Ich lag allein in meinem Zimmer und hatte nur komische, ungewohnte Geräusche um mich herum.“
Die Delir-Helfer versuchen deshalb den Betroffenen und Risikopatienten während ihres Aufenthaltes im Krankenhaus Orientierung zu geben, erklärt er. „Die Kommunikation ist dabei das Wichtigste. Dadurch holt man die Leute sozusagen wieder auf den Boden der Tatsachen zurück und gibt ihnen Sicherheit.“ Oft seien es banale Sachen, die einen großen Effekt haben. „Man reicht Wasser an, hilft beim Essen oder Anziehen, schenkt ihnen einfach Aufmerksamkeit und findet heraus, wie sie sich wirklich fühlen.“
Jedes Verhalten habe eine Ursache, das sei auch für die Schmerztherapie sehr wichtig, erklärt Maaßen. „Menschen im Delir können oft keine Schmerzen mehr fühlen, während die Entzündungsprozesse im Körper trotzdem weiter voranschreiten.“ Das äußere sich dann manchmal dadurch, dass sie nicht schlafen können oder sich unruhig verhalten.
Auffälliges Verhalten von Patienten wird Team gemeldet
Das Delir-Team gehe bei seiner Betreuung strukturiert vor, sagt die Expertin. „Alle Patienten über 70 bekommen bei der Aufnahme einfache Fragen gestellt, die ihre kognitiven Fähigkeiten testen. Wer sie falsch beantwortet, wird beobachtet und wenn nötig auf die Liste des Delir-Teams gesetzt.“ Aber auch Personen, die von der Intensivstation auf die Normalstation verlegt wurden und sich auffällig verhalten, werden dem Team gemeldet, erklärt die Projektleiterin. Die Betroffenen seien auf allen Stationen des Krankenhauses verteilt. Für den Erfolg des Delir-Teams sei daher eine interdisziplinäre Zusammenarbeit wichtig, erklärt Maaßen. Als sie anfing, das Projekt aufzubauen hieß es deshalb „Klinken putzen“ auf den Stationen, um möglichst viel Personal für das Thema Delir zu sensibilisieren. Nach und nach wurden ihr dann immer mehr Patienten gemeldet.
Durch sein Ehrenamt leistet er einen wichtigen Beitrag, findet Shepherd. „Manchmal sind es die scheinbar kleinen Momente, in denen man merkt, dass man die Leute wirklich berührt hat. Ich betreue oft Patienten, die sagen Sie hat der Himmel geschickt‘.“
Aktuell werden weitere Helferinnen und Helfer für das Delir-Team im Cellitinnen-Krankenhaus St. Vinzenz gesucht. Interessierte können sich unter der 0221 7712-4177 oder per Mail (janine.maassen@cellitinnen.de) melden.
