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Mission TeilhabeDie Kölner Initiative „Jekob“ fordert Arbeitsplätze für Mehrfachbehinderte

4 min
Ein junger Mann im Rollstuhl wird in ein Behinderten-Taxi verladen.

Der 18-jährige Martin wird jeden Tag zu seiner Werkstatt in Bergheim gebracht. Dafür muss er eine Stunde Fahrtzeit in Kauf nehmen.

Junge Menschen mit Einschränkungen finden in Köln oft keinen Werkstatt-Platz. Ein 18-jähriger Kölner etwa muss jeden Tag nach Bergheim pendeln.

Die vergangenen Monate waren für Rebecca Fuchß und ihre Familie aufreibend. Ihr Sohn Martin (Name geändert) hatte im Sommer die Schule verlassen, konnte aber, obwohl er in seiner Schullaufbahn fünf Berufspraktika absolviert hatte, keine Stelle in einer Werkstatt finden. Der 18-Jährige hat eine komplexe Mehrfachbehinderung und Pflegegrad 5. Er spricht nicht, benötigt Unterstützung beim Essen und Trinken und wird manchmal laut. Er schmeißt auch mal Dinge durch die Gegend und muss deshalb permanent beaufsichtigt werden. „Als Martin die Förderschule besuchte, hatte er eine Eins-zu-Eins-Betreuung, aber das gibt es in den Werkstätten nicht“, berichtet Fuchß.

Bei elf Werkstätten hatte die Familie angefragt und elf Ablehnungen erhalten: Personal- oder Platzmangel lauteten die Begründungen. Rebecca Fuchß vermutet, dass die Werkstätten die Herausforderungen scheuten, die mit der Betreuung ihres Sohnes verbunden sind. Und das, obwohl laut Sozialgesetzbuch (SGB IX) ausdrücklich auch Menschen, die einer erhöhten Pflege, Betreuung oder Förderung bedürfen, die Teilhabe am Arbeitsleben ermöglicht werden muss. Allerdings macht das SGB insofern einen Rückzieher, als die Werkstätten eine Einstellung verweigern können, falls ein „Mindestmaß an wirtschaftlich verwertbarer Leistung“ nicht zu erwarten ist.

Vereinbarung sichert Beschäftigung für stark eingeschränkte Menschen

Rebecca Fuchß und Barbara Ostendorf bezweifeln jedoch, dass dieser Passus in Nordrhein-Westfalen noch Gültigkeit hat. Im Frühjahr haben sie zusammen mit zehn anderen Eltern aus dem Großraum Köln die Initiative „Jekob“ – Junge Erwachsene mit komplexer Beeinträchtigung – gegründet, um die Interessen ihrer Kinder zu vertreten. Sie verweisen auf die „Vereinbarung zur Teilhabe an Arbeit von Menschen mit sehr hohen und/oder sehr besonderen Unterstützungsbedarfen in nordrhein-westfälischen Werkstätten für behinderte Menschen und/oder anderen Leistungsanbietern“. Das Papier wurde 2020 unter anderem vom Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales NRW, von der Regionaldirektion NRW der Bundesagentur für Arbeit und den Landschaftsverbänden Rheinland und Westfalen Lippe unterzeichnet.

Diese Vereinbarung bekenne sich zu einem „personenzentrierten“ Ansatz. Bei Mitarbeitern mit hohem Unterstützungsbedarf werde also der Persönlichkeitsentwicklung Vorrang vor der „verwertbaren Arbeitsleistung“ eingeräumt. Diese könne „im Interesse der betroffenen Menschen niederschwellig angesetzt werden“, heißt es im Text der Vereinbarung. Für Ostendorf ist das auch notwendig: „In NRW stehen die Werkstätten theoretisch schon immer allen Menschen offen, unabhängig von der Schwere der Behinderung. Deshalb gibt es unterhalb der Werkstätten keine alternativen Angebote. Auch im Bereich Wohnen herrscht Platzmangel.“

Eltern befürchten Ausgrenzung und soziale Isolation ihrer Kinder

Damit die Werkstätten Menschen mit hohem Unterstützungsbedarf aufnehmen können, sollen sie laut der Vereinbarung spezielle „Basismodule“ für diesen Personenkreis anbieten. Aber genau daran mangele es in Köln ganz offensichtlich, obwohl die Forschung, etwa an der Uni Köln, in dieser Hinsicht längst weiter sei, sagen die Jekob-Mitglieder. Als Folge drohe eine Ausgrenzung ihrer Kinder und damit die soziale Isolation von Menschen, die gerne in Gemeinschaft mit anderen leben und arbeiten würden, auch wenn es ihnen manchmal schwerfällt. Andere Bundesländer hätten dafür Modelle entwickelt, sie ermöglichten es auch stark eingeschränkten Menschen, je nach ihren Fähigkeiten beim Einkaufen zu helfen, in Supermärkten Kisten zu schleppen oder Müll zu sammeln. Die Teilnahme am „richtigen Leben“ also. In NRW sei mit der Vereinbarung bislang vor allem der politische Wille dokumentiert.

Werkstätten in Köln lehnen 60 bis 70 junge Menschen pro Jahr ab

Deshalb lehnten allein die Kölner Werkstätten Jahr für Jahr geschätzt 60 bis 70 junge Leute mit hohem Unterstützungsbedarf ab, egal ob es sich um Einrichtungen der Gemeinnützigen Werkstätten Köln, der Caritas, der Lebenshilfe oder der Sozial-Betriebe-Köln handele. Das stelle auch die Familien, die die Betreuung ihrer Kinder sicherstellen müssen, vor große Probleme: „Es trifft die Schwächsten. Aber der Personenkreis hat keine Lobby, die Öffentlichkeit nimmt das kaum wahr“, sagt Rebecca Fuchß. Barbara Ostendorf etwa hat für ihren Sohn Jan (Name geändert), der mit dem Down-Syndrom zur Welt kam, mittlerweile eine Versorgung außerhalb der Werkstatt organisiert, wo man nicht adäquat auf Jans Bedürfnisse eingehen konnte, wie sie feststellen musste. Nun kümmern sich sechs Betreuer zu unterschiedlichen Zeiten um ihn, Ostendorf selbst musste sich von ihrem Beruf beurlauben lassen: „In der Regel übernehmen das ja die Mütter.“

Mit ihrer Initiative Jekob, aus der demnächst ein Verein werden soll, möchten die Familien auf die Missstände aufmerksam machen und die Verantwortlichen wachrütteln – bei der Agentur für Arbeit, beim Landschaftsverband, bei den Trägern der Einrichtungen. Überregional ist man bereits auf die Initiative aufmerksam geworden: „Der Landesverband für Menschen mit Körper- und Mehrfachbehinderung NRW hat unsere Stellungnahme bereits auf seine Website gestellt“, sagt Rebecca Fuchß stolz. Für Martin hat die Familie inzwischen auch einen Werkstatt-Platz gefunden – in Bergheim.


Der Text der Stellungnahme von Jekob ist unter www.lvkm-nrw.de/selbsthilfe/#stellungnahmen zu finden. Die Mitglieder der Initiative treffen sich alle zwei Monate, Neuzugänge sind immer willkommen. Weitere Informationen können online angefordert werden: info@jekob.de