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Schmerzen verdampfenIn Mülheim öffnet Kölns erste Praxis für Cannabis-Therapie

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Obwohl Cannabis zum medizinischen Einsatz schon seit 2017 erlaubt ist, gibt es nicht viele Praxen, die damit therapieren.

Köln-Mülheim – Marvin Kreft hat in seinem Leben schon viel Zeit in Wartezimmern verbracht. Seit 15 Jahren leidet er unter Morbus Scheuermann, einer chronischen Rückenkrankheit, die bei ihm das Bandscheibengewebe verändert. Seine Geschichte ist die vieler Schmerzpatienten: Auf der Suche nach Linderung war der heute 30 Jahre alte Berufsfeuerwehrmann jahrelang bei unzähligen Ärzten in Behandlung.

Ihm wurden immer wieder neue Medikamente verschrieben und OP-Termine verordnet. Kaum etwas davon half. Um die Schmerzen zu lindern, raucht er seit einigen Jahren Cannabis. „Das hatte ich eigentlich seit der Abi-Zeit nicht mehr gemacht, bis mich ein Heilpraktiker darauf brachte“, erzählt er. Seit Ende des Jahres konsumiert er das Betäubungsmittel endlich ganz legal, wie er sagt: Kreft ist einer der ersten Kölner Patienten bei Algea Care, einer ärztlichen Therapiepraxis für medizinisches Cannabis, die im Dezember eine Dependance in Mülheim eröffnet hat.

Individuelle Anpassung an jeden Patienten

„Durch die vielen Medikamente, die mir verschrieben wurden, habe ich stattdessen einen Reizdarm entwickelt“, berichtet Kreft von den Begleiterscheinungen, die seine chronische Erkrankung mit sich bringt. „Es hat bei mir eine deutlich längere und bessere schmerzstillende Wirkung als konventionelle Medikamente“, so Kreft.

Nach einer Explosion im Dienst erlitt der Feuerwehrmann zudem vor einigen Jahren einen Hörsturz. Seitdem hat er auf beiden Ohren einen Tinnitus. „Auch diese Symptome werden gelindert“, so der 30-Jährige. Marvin Kreft ist nicht sein richtiger Name. Der Feuerwehrmann möchte unerkannt bleiben. Auch wenn er das Cannabis mittlerweile auf Rezept verschrieben bekommt.

Eine tägliche Dosis von 0,2 Gramm der Cannabis-Blüten inhaliert der Kölner jeden Abend – nicht in einer gedrehten Zigarette, dem klassischen „Joint“, sondern mit einem Verdampfer (Vaporisator), der extra für den medizinischen Gebrauch des alternativen Schmerzmittels gedacht ist.

„Medizinisches Cannabis wird auf das Milligramm abgewogen und für jeden Patienten individuell angepasst. Es gibt mehr als 100 verschiedene Sorten von Cannabis für die medizinische Behandlung, die Variationsmöglichkeiten – auch in der Wirkung – sind daher groß“, sagt Algea Care-Gründer Dr. Julian Wichmann. Ein Drittel ihrer Patienten, so der Mediziner, seien Schmerzpatienten, etwa nach Bandscheibenvorfällen oder schweren Unfällen, ein weiteres Drittel habe psychiatrische Erkrankungen wie Schlafstörungen oder ADHS. Das letzte Drittel setze sich aus Patienten mit unterschiedlichen chronischen Krankheiten zusammen, etwa Darmerkrankungen wie Morbus Crohn oder Krebserkrankungen.

Seit 2017 in Deutschland zugelassen

„Der Großteil unserer Patienten hat im Verlauf der Behandlung ein deutliche Linderung der Symptome oder wird sogar beschwerdefrei. Das erhöht die Lebensqualität natürlich enorm. Der Vorteil von medizinischem Cannabis ist, dass es im Gegensatz zu anderen starken Medikamenten oft wenig Nebenwirkungen hat“, so der Mediziner. Viele seiner Patienten hätten schon vor Behandlungsstart Cannabis ausprobiert: „Diese Menschen sind sehr froh, endlich aus der Illegalität herauszukommen, um ihre Symptome zu lindern.“

Seit 2017 ist medizinisches Cannabis per Gesetz in Deutschland zugelassen: Ärzte können es schwer erkrankten Patientinnen und Patienten verschreiben, die Blüten stammen aus kontrollierter Qualität und sind in Apotheken erhältlich. Soweit zumindest die Theorie. In der Praxis, sagt Algea Care-Gründer Dr. Julian Wichmann, sehe das allerdings noch anders aus. „Weniger als zwei Prozent der deutschen Ärzte verschreiben alternative Therapien mit Cannabis“, so Wichmann. Noch stoße die Nachfrage von Patienten nach dieser Art der Behandlung bei vielen seiner Kollegen auf taube Ohren. „Ich habe sehr ablehnende Reaktionen von meinen Ärzten erfahren“, berichtet auch Berufsfeuerwehrmann Marvin Kreft. Seinem Hausarzt habe er bis heute nicht von seiner Therapie erzählt. „Für viele gestandene Kollegen ist es ein neues Thema“, sagt Dr. Julian Wichmann.

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Zudem sei die Verordnung ein „großer bürokratischer Aufwand“, Ärzte hätten Angst vor Regressansprüchen. Bei Algea Care werden deshalb nur Privatpatienten und Selbstzahler behandelt. Mit moderaten Kosten, so der Gründer: Patienten zahlen monatlich etwa 120 Euro für die Behandlung. Die Praxen setzen dabei auf einen besonderen Servicegedanken: Die Sprechstunden finden im vier- bis sechswöchigen Rhythmus digital statt. Anfragen werden binnen weniger Stunden per E-Mail beantwortet, Erstgespräche in der Praxis finden auch am Wochenende statt.

„In anderen Facharztpraxen habe ich zum Teil Monate lang auf einen Termin gewartet“, sagt Patient Kreft – für ihn ein „gravierender Unterschied“ zu anderen Praxen. Das Cannabis – zum Inhalieren im Verdampfer oder zur Einnahme als Öl – wird durch kooperierende Versandapotheken nach Hause geliefert. In Kölner Apotheken, Kreft hat es ausprobiert, habe man dagegen nur große Augen gemacht.