Vier Monate lebt die jüngste Tochter von Sandra und Jens aus Köln schon mit einem neuen Herzen. Wir erzählen ihre Geschichte.
TransplantationWie ein neues Herz einem Kölner Mädchen Hoffnung schenkt
Wenn Sandra und Jens die Geschichte ihrer jüngsten Tochter erzählen, erinnern sie sich an jedes Detail. An die Regentropfen, die bei ihrem zweiten Herzstillstand fielen, an die verschiedenen Pieptöne auf der Intensivstation, und an den Hubschrauber, mit dem ihr neues Herz zu ihr kam. Vier Tage vor Weihnachten wurde dem fünf Monate alten Mädchen aus Köln im Universitätsklinikum Gießen ein neues Herz eingesetzt.
Dass sie auf die Transplantationsliste wollen, hatten Sandra und Jens schnell für sich entschieden. „Auf den nächsten Herzstillstand zu warten, das sind wir nicht. Das ist nicht unser Leben“, sagt die 38-Jährige. Auch ein Stück Normalität sollte das neue Herz der Familie zurückgeben. Und ein bisschen hat es das bereits. Auf einer bunten Krabbeldecke im Wohnzimmer der Familie dreht sich ihre Tochter L., heute neun Monate alt, von einer zur anderen Seite, und brabbelt vor sich hin, während Sandra und Jens von ihr erzählen.
Herzstillstand drei Wochen nach der Geburt
Den Namen ihrer Tochter wollen sie nicht in der Zeitung lesen, deshalb kürzen wir ihn hier ab. L. wird im Juli des letzten Jahres in der Kölner Uniklinik geboren. Zwei Kinder haben Sandra und Jens schon, vier und sechs Jahre alt. Anders als bei ihnen, wird bei ihrer jüngsten Tochter schon nach der Hälfte der Schwangerschaft festgestellt, dass die Herzklappe in der rechten Herzkammer an der falschen Stelle gewachsen ist. Kein Grund zur Sorge, sagen die Ärzte, eine Laune der Natur. Nach ihrer Geburt wird L. nach einer Woche Überwachung auf der Kinderkardiologie entlassen. „Ich hatte trotzdem irgendwie ein komisches Gefühl“, sagt Sandra.
Als ihr Herz zum ersten Mal stehen bleibt, sind drei Wochen nach der Geburt vergangen, es ist Mitten in der Nacht. „Sie schrie auf meinem Arm und war dann ganz plötzlich ruhig. Ich dachte, sie ist eingeschlafen. Aber als ich sie hingelegt habe, fiel sie nur nach hinten weg. Keine Bewegung mehr, nichts“, erinnert sich ihre Mutter. Kurz danach fängt L. wieder an zu atmen, versucht stoßweise Luft zu bekommen. Ein Rettungswagen bringt sie in die Notaufnahme. Als Sandra erzählt, was dort passiert, versagt kurz ihre Stimme. Vom Nebenzimmer aus bekommt sie mit, wie es im Untersuchungsraum hektisch wird. „Ich habe erst gedacht, warum sagen sie immer wieder ‚Rea‘? Bis ich verstanden habe, dass sie sie reanimieren.“ Dreimal wird L. an diesem Abend ins Leben zurückgeholt. Später sagen ihr die Ärzte, dass sie nicht wissen, ob sie die Nacht überlebt.
Die einzige Chance: eine Herztransplantation
Aber L. überlebt - und erholt. In dieser Zeit werden unzählige Untersuchungen gemacht. Bis schließlich durch eine Genanalyse herauskommt, dass sie an einem seltenen und schweren Gendefekt leidet, dessen Folge eine sogenannte dilatative Kardiomyopathie ist. Die Muskulatur der Herzwände verdicken und beeinträchtigen die Pumpleistung ihres Herzens. Eine Therapie gibt es nicht. Die einzige Chance ist eine Herztransplantation. Ohne sie ist das Risiko eines plötzlichen Herzstillstandes hoch. So wie an einem Tag im Oktober, ein paar Wochen nach der Entlassung. Es tröpfelt draußen, die Familie kommt mit dem Auto vom Einkaufen. Als sie zu Hause ankommen, schlägt das Herz von L. nicht mehr. „Wir haben sofort mit der Reanimation begonnen. Wir waren ja darauf vorbereitet“, sagt Jens.
Wieder fängt das kranke Herz an zu schlagen. Doch dieses Mal wird L. nicht aus der Uniklinik entlassen. Sie ist zu instabil. Mit dem Helikopter geht es weiter nach Gießen, dort werden in Europa die meisten Transplantationen an Säuglingen unter einem Jahr durchgeführt. Ende November wird sie auf die Warteliste für ein neues Herz gesetzt. Zwei bis drei Jahre kann es dauern, sagt der 39-Jährige, bis ein Organ da ist. „Aber ab Anfang Dezember hat sie abgebaut. Wir konnten ihr beim Sterben zusehen.“
Sechsmal täglich Medikamente
165 Kilometer trennen Gießen und Köln - und nun auch die Familie, einer ist bei den großen Geschwistern, einer in der Klinik. Sandra ist mit den beiden älteren Kindern in ihrer Wohnung in Neuehrenfeld, als am Morgen des 20. Dezember um zehn vor sechs ihr Handy klingelt. „Hast du ein Weihnachtswunder bestellt?“, fragt ihr Mann am Telefon. Nur Minuten zuvor hatte er selbst den entscheidenden Anruf der Ärzte bekommen: „Wir haben ein Spenderherz.“ Noch am selben Tag wird es L. in der Gießener Uniklinik transplantiert.
Das neue Herz nimmt ihr Körper gut auf. Nach 100 Tagen im Gießener Krankenhaus kann sie Ende Februar wieder zurück nach Hause. „Von Normalität“, gibt Jens zu, „sind wir aber noch weit entfernt.“ Sechsmal täglich braucht L. Medikamente, die direkt über eine Duodenalsonde in den Darm gespritzt werden. Über diese wird sie auch ernährt. Trotzdem erbricht sie immer wieder. Achtmal täglich muss sie inhalieren, zusätzlich braucht sie Sauerstoff, wenn die Sättigung heruntergeht. Diese wird durch einen Monitor ständig überwacht. „Ihre Geschwister kennen sie ohne die Schläuche gar nicht“, sagt Sandra. Jede Woche fahren sie zweimal zur Kontrolle in die Klinik, einmal nach Köln, einmal nach Gießen.
„Liebe Nachbarn, wenn ihr uns im Hausflur seht, haltet bitte Abstand oder wartet in eurer Wohnung, bis wir weg sind.“ Das hat die Familie auf einen Zettel im Hausflur des Mehrfamilienhauses geschrieben, in dem sie leben. Weil ihr Immunsystem nach der Transplantation so schwach ist, muss L. für mindestens sechs Monate in Quarantäne. Und das eben so, wie es mit zwei Kindergartenkindern zu Hause funktioniert. Wenig Besuch, Maske tragen, Hände waschen - das gehört zum neuen Alltag. Kursieren in der Kita ansteckende Krankheiten, bleiben sie zu Hause.
Die Pflege zehrt nicht nur an den Kräften, aktuell kommen neben der permanenten Sorge um ihre Tochter auf das Paar auch finanzielle Sorgen hinzu. Sandras Vertrag als Tagesmutter wurde nicht verlängert, Jens hat Elternzeit genommen. Lebensunterhaltungskosten wie Miete oder Lebensmittel müssen weiterhin bezahlt werden, die finanziellen Reserven neigen sich dem Ende zu. Nachdem Freunde im vergangenen Jahr bereits eine Spendenaktion auf der Online-Plattform Betterplace initiiert hatten, haben sie nun selbst eine gestartet. In den ersten 24 Stunden kamen bereits rund 20.000 Euro zusammen.
Sandra und Jens haben jeder für sich Wege gefunden, das bisher Erlebte zu verarbeiten: Psychotherapie, Ablenkung, Annahme. „Die Frage nach dem Warum, die stellen wir uns gar nicht. Es ist, wie es ist“, sagt Sandra. Eine Lebenserwartung von 20 Jahren haben die Ärzte ihrer jüngsten Tochter gegeben. Es ist nicht das Herz, das versagen wird, sondern ihr Körper aufgrund der vielen Medikamente. „Wir haben gelernt, im Hier und Jetzt zu leben. Wer weiß schon, was in zwanzig Jahren alles möglich sein wird.“ Die großen Geschwister haben eine Puppe bekommen, deren Körper man mit einem Reißverschluss öffnen kann. Die Oma hat ihnen ein kaputtes Herz genäht, das man herausnehmen kann. Manchmal wird das heile Herz in der Wohnung versteckt - solange, bis es gefunden und endlich ausgetauscht wird.