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„Die elfte Stunde“Salman Rushdie erzählt von Alter, Tod und der Macht der Kunst

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In seinem jüngsten Werk «Die elfte Stunde» beschäftigt sich Salman Rushdie der Frage, wie man dem nahenden Tod begegnen sollte. (Archivfoto)

In seinem jüngsten Werk „Die elfte Stunde“ beschäftigt sich Salman Rushdie der Frage, wie man dem nahenden Tod begegnen sollte. (Archivfoto)

Der Schriftsteller veröffentlicht mit „Die elfte Stunde“ seine zweite Sammlung von Kurzgeschichten seit 1994. Es geht in allen Texten ums Alter, den Tod und um die Kunst als einzige Alternative.

Unvollendetsein sei unser unausweichliches Schicksal, schreibt Salman Rushdie. Keiner könne die eigene Geschichte vervollständigen, weil der Tod das Leben beendet. Wir alle bleiben erstarrt in einem Waggon und warten darauf, dass jemand anderes unsere Geschichte zu Ende erzählt und uns vervollständigt, falls jemandem daran gelegen sein sollte.

Gerade wurden im Oktober wieder die Nobelpreise verliehen und obwohl er von den Buchmachern mit lieber Regelmäßigkeit als Favorit gehandelt wird, hat der 1947 in Bombay geborene Rushdie die Auszeichnung erneut nicht erhalten. Ein Grund mehr, warum er als Unvollendeter gelten kann. Seit er 1988 seinen Roman „Die Satanischen Verse“ veröffentlichte und der iranische Revolutionsführer Ayatollah Khomeini eine Fatwa verhängte und dazu aufrief, den Schriftsteller wegen Blasphemie zu töten, kennt die ganze Welt seine Geschichte. Jahrelang lebte er unter Personenschutz an wechselnden Orten in Großbritannien. Erst 2022 überlebte er im Bundesstaat New York den Messerangriff eines Islamisten. In „Knife“ (2022) schrieb er über seine Gedanken nach dem Mordversuch.

Rushdies neues Buch ist eine Sammlung von Kurzgeschichten

Es ließe sich beinahe sagen, er habe mehr als nur ein Leben. Aber ist das nicht bei Schriftstellern immer so? Haben sie nicht alle mehr als ein Leben? Gerade ist das neue Buch von Salman Rushdie erschienen. Es enthält fünf Erzählungen und ist nach „Osten, Westen“ (1994) erst seine zweite Sammlung mit Kurzgeschichten. Der Titel „Die elfte Stunde“ verweist auf die fortgeschrittene Lebensuhr, geht es in allen Texten doch ums Alter, den Tod und um die Kunst als einzige Alternative. Einmal mehr gibt der Friedenspreisträger des Deutschen Buchhandels den Weltbürger und postkolonialen Geschichtenerzähler. Er entführt seine Leser und Leserinnen nach Indien, wo er als Sohn einer Lehrerin und eines Geschäftsmannes aufwuchs, nach Großbritannien, wohin er mit 13 ans Elite-Internat Rugby geschickt wurde und erstmals Erfahrungen mit Rassismus machte, und in die USA, wo er nach den Jahren in England die Anonymität der Großstadt New York suchte.

Herzstück des Bandes sind drei längere Erzählungen, die sich getrost auch Künstlernovellen nennen lassen. In „Die Musikerin von Kahani“ rächt sich eine begnadete Pianistin an ihrem neureichen Ehemann, einem Banausen aus einer Unternehmer-Familie, der in ihr nur die Gebärmaschine seines Sohnes sieht. Es ist eine Geschichte über die Kraft der Kunst, die in einer säkularisierten Welt, in der die Religion nur noch von Scharlatanen gepredigt wird, zu einer letzten Glaubensquelle werden und magische Mächte freisetzen kann. Aber wehe, sie wird in ihrer Freiheit beschnitten, wie in der Erzählung „Saumselig“, in der ein aus Indien stammender Ehrenprofessor vom Rektor seiner englischen Hochschule dazu gezwungen wird, seine Homosexualität zu unterdrücken und so in gewisser Weise kastriert, kein einziges Buch mehr vollenden kann. Nach seinem Tod kehrt er als Geist zurück und nimmt Rache.

Rushdie Stil: Das postmoderne Märchen

Der Ton von Salman Rushdie erinnert an postmoderne Märchen und hat mitunter etwas Parabelhaftes. Voll von intertextuellen Anspielungen aus der Literaturgeschichte vereint der Booker-Preisträger des Jahres 1981 Erzähltraditionen aus Ost und West. Am faszinierendsten macht er das in der Novelle „Oklahoma“, in der er einen jungen Schriftsteller auf die Suche nach einem älteren, von ihm verehrten Kollegen schickt, der spurlos verschwunden ist. Immer schon lebte dieser „Onkel K.“, wie er ihn nennt, lieber in der imaginären Welt der Sprache als in der realen. Eines Tages aber werden seine Kleider am Strand gefunden und es scheint, Onkel K. habe sich das Leben genommen. Aber ist dem wirklich so? Oder hat er seinen Tod nur vorgetäuscht? Lustvoll beschreibt Salman Rushdie die totalitäre, korrupte Welt, die sich unschwer als Trumps USA erkennen lässt, und nimmt dabei Motive von Franz Kafkas „Amerika“-Roman auf. Muss man diesem Sündenpfuhl nicht entfliehen?

Auch in der letzten Erzählung „Der alte Mann auf der Piazza“ greift Salman Rushdie ein hochaktuelles Thema auf und sinniert über die Lust am Diskurs und über selbst ernannte Tugendwächter, die neue Denkverbote verhängen und damit letztlich zum Verlust der Sprache führen. Wie ein Plädoyer für Kunstfreiheit und Toleranz lesen sich die intellektuellen, aber nie verkopften Erzählungen. Hier spricht einer nicht nur in eigener Sache, sondern im Sinn der ganzen Menschheit. Wo kämen wir hin, wenn wir die Sprache den Polterern und Mächtigen überlassen? Für Salman Rushdie, der sich über all die schweren Jahre im Untergrund immer die Ironie bewahrt hat, ist das keine Option. Ihn zu lesen ist immer wieder eine Freude.

Salman Rushdie: Die elfte Stunde. Fünf Erzählungen. Übersetzt von Bernhard Robben. Penguin, 288 S., 26 Euro, ISBN 978-3-328-60468-6