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Neuer Roman von Ian McEwanLiterarische Schatzsuche nach der Apokalypse

4 min
Ian McEwan

Ian McEwan veröffentlicht seinen neuen Roman.

Ian McEwan wagt in seinem neuen Roman einen kühnen Spagat: Im Jahr 2119, nach Klimakatastrophen und Atomkriegen, macht sich ein Philologe auf die Suche nach einem verschollenen Gedicht. Eine raffinierte Zeitreise zwischen Weltuntergang und Liebesgeschichte

Tom Metcalfe hätte ja auch gleich mit dem globalen Desaster hereinplatzen können: Dass England 2042 nach Klimakatastrophe, Atomkriegen und Tsunamis zum Archipel wurde, aus dem nur ehemalige Höhenzüge als Inseln herausragen. Dass neben London auch Hamburg, Rotterdam und Lagos in den Wassermassen versanken und Deutschland dem Großrussischen Reich einverleibt wurde.

All dies aber scheint dem Philologen nicht so wichtig wie Francis Blundys verschollener „Sonettenkranz für Vivien“, ein Langgedicht, das der Starpoet im Oktober 2014 als Geschenk zum 54. Geburtstag seiner Frau einmal vortrug, bevor es unveröffentlicht zum „Brennpunkt haltloser Verehrung“ wurde. So sehen wir Tom im Mai 2119 per Schiff zur Bodleian Library aufbrechen, um seine Spurensuche zu intensivieren.

Geisteswissenschaftliche Schnitzeljagd

Schon kühn, fast halsbrecherisch, dass Ian McEwan in seinem 18. Roman „Was wir wissen können“ die irdische Apokalypse mit einer geisteswissenschaftlichen Schnitzeljagd kombiniert, dass er zudem hellsichtig über Demenz und Leidenschaft sowie über Liebesverrat schreibt.

Ob er einen Roboter zum erotischen Versucher („Maschinen wie ich“), oder einen Fötus zum altklugen Kriminalisten („Nussschale“) macht – der englische Autor ist dramaturgischen Drahtseilakten nie abgeneigt. Diesmal also wagt er eine Zeitreise mit Rückfahrkarte, wenn ein Mann aus der Zukunft nostalgisch-romantisierend auf unsere letztlich fatale Gegenwart blickt.

Ersatzkaffee und Proteinkuchen

Für Tom sieht das so aus: Mag die Menschheit im 21. Jahrhundert auch die Klimakrise verharmlost haben, delektierte sie sich eben auch an paradiesischen Genüssen wie Wachteln mit Steinpilzen – während auf der postapokalyptischen Speisekarte Ersatzkaffee und Proteinkuchen stehen.

Und dann die damalige Blüte der Literatur: Der fiktive Francis Blundy rangiert in der gleichen Lyrik-Liga wie der tatsächliche Nobelpreisträger Seamus Heaney, weshalb Viviens Geburtstagsdinner als das „Zweite unsterbliche Abendessen“ verehrt wurde – das erste (reale) versammelte 1817 John Keats, William Wordsworth und Charles Lamb.

Ein Mann gerät ins Abseits

Tom Metcalfe nutzt von E-Mails über Briefe und Tagebuchnotizen alle Möglichkeiten, das Geburtstagsessen zu rekonstruieren, und dank McEwans erzählerischer Finesse sieht man sie bald alle leibhaftig am Tisch: Francis’ eitlen Lektor, die Schriftstellerin Mary Sheldrake, eine Keramikerin, einen Tierarzt und alle anderen. Schon erschöpft von Wein und Gin, bekommen sie jedoch wenig vom Sonettenkranz mit, den Francis zu später Stunde feierlich von der Pergamentrolle vorträgt. Und Tom, der über seiner Obsession Karriere und Ehe riskiert, sieht sich als „Biograf der Reputation eines ungelesenen Gedichts“ allmählich im Abseits.

Dem 77-jährigen Autor geht es um den Spagat zwischen Vergangenheit und Zukunft, um Empathie für die vor unserer Lebensspanne Gestorbenen wie die vorausschauende Rücksichtnahme auf die Ungeborenen. Beide sind gewissermaßen Geister, die wie in magischer Séance beschworen werden.

Dystopie mit ironischen Zügen

Zudem geizt McEwans Dystopie Prophetie nicht mit Ironie: Die atomaren Angriffe werden durch die Erstschlagsempfehlungen einer hypernervösen KI getriggert, das Internet funktioniert nur dank der neuen Hegemonialmacht Nigeria – und der nukleare Winter lässt die Temperaturen sogar heilsam sinken. Traurig, aber wahr: Auch die Halbierung der Weltbevölkerung fördert die Erholung der geschändeten Natur.

Gewiss packt der Mann aus Aldershot dennoch zu viel an literarischen Anspielungen und Zitaten in diesen ersten Teil. Manchmal glaubt man, vor einer Herdplatte zu stehen, deren stärkste Stufe schwächelt. Doch das gelassene Hochköcheln der Spannung mündet in eine überraschende Entdeckung, die blitzschnell den erhofften Thrill bringt: Im zweiten Teil spricht die schillernde Vivien – eine Frau mit ebenso starkem sexuellen wie intellektuellen Appetit, dazu einem sarkastisch-präzisen Blick auf andere wie sich selbst.

Ein Beispiel für ganz große Literatur

Plötzlich klaffen Abgründe auf: Ihre liebevolle erste Ehe mit dem Geigenbauer Percy kommt unter die Räder seiner schonungslos protokollierten Alzheimer-Erkrankung, dann zuerst die Affäre, nach Percys Tod die Heirat mit dem Dichterfürsten, dem Vivien ihre eigenen akademischen Ambitionen opfert.

Und wie im vorigen Werk „Lektionen“ variiert Ian McEwan virtuos das jahrhundertealte Kernthema aller Kunst: das Wachsen und Vergehen der Liebe, die Lust, die sie entfesseln und das verbrecherische Grauen, das sie auslösen kann. So eindringlich und schockierend wie hier glückt das nur ganz großer Literatur.

Ian McEwan: Was wir wissen können. Roman, aus dem Englischen von Bernhard Robben. Diogenes, 480 S., 28 Euro. Das Buch erscheint am 24. September.