Gerade erst wurde bekannt, dass Kathrin Röggla mit dem Heinrich-Böll-Preis der Stadt Köln ausgezeichnet wird. Parallel veröffentlichte sie ihren neuen Roman „Laufende Verfahren“.
Interview mit Kathrin RögglaWie man mit der Wut auf die NSU-Mörder umgeht

Kathrin Röggla im Garten des Overstolzenhauses.
Copyright: Meike Böschemeyer
Herzlichen Glückwunsch zum Gewinn des Heinrich-Böll-Preises! Wie wichtig sind Auszeichnungen für Autorinnen und Autoren?
Enorm! Einerseits ist es die Anerkennung, die in dem Moment eine gesellschaftliche ist, aber es ist auch eine finanzielle Geschichte – und eine Aufmerksamkeit für Bücher.
Seit 1992 haben Sie laut Wikipedia 32 Preise und Auszeichnungen erhalten, oftmals mehrere in einem Jahr. Behält man da den Überblick? Und was denkt man in dem Jahr, wo man nichts bekommt?
(lacht) Das ist ein langer Zeitraum, mit unterschiedlichen lebens- und werkgeschichtlichen Phasen. Es gab etwa Jahre, in denen ich mehr Theater gemacht habe – und da bekommt man weniger Aufmerksamkeit als auf dem Buchmarkt.
Sind Preise ein Gradmesser für Erfolg?
Ich finde schon, es ist ein hohes Maß von Anerkennung, wenn Jurys dich für preiswürdig erachten. Aber – und da spreche ich jetzt als stellvertretende Präsidentin der Akademie der Künste in Berlin – die Grundförderung hat abgenommen, und man fördert immer mehr mit Jurysystemen und Anträgen.
Wie kann man besser fördern?
Zum Beispiel mit mehr Stipendien, das Stipendiensystem in Österreich ist beispielsweise sehr gut. Hier in Köln sind wir im Bundesvergleich schon ganz gut aufgestellt. Aber in einer Stadt dieser Größe könnte es mehr geben. Doch auch die Verlagsunterstützung wäre noch auszubauen. Denn wenn ich einen Roman schreibe, brauche ich eine längere Perspektive; er amortisiert sich nicht während des Schreibens, sondern erst nachher.
Wie entstand die Idee, den NSU-Prozess literarisch zu verarbeiten?
Ich habe mich schon länger mit der Justiz, Rechtsprechung und der politischen Dimension von Rechtsprechung beschäftigt. 2015 war ich bei Milo Raus „Kongo-Tribunal“, als Gerichtsschreiberin auf der Bühne. Und ich wurde immer wieder auf das NSU-Verfahren hingewiesen: Geh“ mal da hin, das ist der große Prozess. Ich war 2017 zum ersten Mal dort, also ziemlich spät. Und fand es dort sehr irritierend.
Inwiefern?
Es wirkte, als wäre die Emotionalität verrutscht. Ich hatte erwartet, etwas über diese schreckliche Terrorgeschichte zu erfahren. Stattdessen wurde über Kopierverordnungen gestritten. Das hat mich als Zuschauerin erstaunt.
Darüber hinaus?
Dass da auf der Zuschauertribüne Leute waren, die da – ohne jegliche Beteiligung – jeden Tag hingingen. Das wurde mein Anker. Wir hatten da einen Prozess mit einer Million Akten, mit Zeugen, die geschwiegen haben, mit Angeklagten, die geschwiegen habe, mit Behörden, die geschwiegen haben und haben Unterlagen schwärzen lassen. Da kann ich nicht hergehen, und den Prozess als Expertin beschreiben. Ich musste das Nichtwissen mit in meine Perspektive hineinnehmen.
Wie haben Sie diese unfassbare Menge an Material für sich organisiert?
Es war dafür wichtig, dort zu sein und mit den Leuten zu sprechen, die auf unterschiedliche Weise am Prozess beteiligt waren. Das hat eine Kraft. Es gab einen großen politischen Druck in dem Material: Du musst vom Leid der Opfer erzählen. Aber dazu gibt es sehr viel und sie wollten nicht mehr reden, sie hatten die Schnauze voll.
Die Opferperspektive wäre Aneignung gewesen.
Genau. Für mich war die Hauptfrage, was geht das uns alle an? Was heißt das, dass der Prozess so ausgegangen ist, eine gewisse Straflosigkeit erfolgt ist. Die machen ja jetzt weiter.
Wie wurde aus der Beobachterin Kathrin Röggla das Wir im Buch?
Ich habe keine Autofiktion geschrieben, das ist ein fiktives Wir. Das Buch ist kein Dokument des NSU-Prozesses mit mir als Beobachterin – und es wehrt sich gegen den Dokument-Status, der den Prozess abschließen würde. Natürlich gibt es Alter Ego-Momente. Aber es ist anders als in meinem New York-Buch über 9/11, wo ich vor Ort war und ganz bewusst meinen Namen reingebracht habe. In „Laufendes Verfahren“ ist es völlig irrelevant, wer das Wir ist.
Weil es so auch jemand anderes hätte erleben können?
Genau. Beziehungsweise, man muss es nicht auf mich beziehen. Es hat seine eigene Geschichte, dieses Wir im Buch ist nicht einfach nur Aufnahmeinstanz eines Geschehens.
Statt der Vergangenheit verwenden Sie das Futur.
Der Prozess ist revisionsfest abgeschlossen, er ist Vergangenheit. Aber jeder Prozess hat eine Zukünftigkeit: Er kann weitere nach sich ziehen, die Urteile verändern weitere Urteile. Er hat eine Wirkung. Weil aber nicht genügend aufgeklärt worden ist, gab es die Forderung der Nebenkläger: Kein Schlussstrich! Das war für mich der Auftrag: Dass man den Prozess nicht als etwas Abgeschlossenes erzählt, sondern dass es weitergeht.
Wie haben Sie es geschafft, sich so lange mit einem Thema zu beschäftigen, das so wütend macht? Das fällt einem ja schon beim Lesen schwer.
Dadurch, dass ich mit vielen im Gespräch war. Da tut Solidarität gut. Für mich aber ist das Schreiben die Lösung. Es hilft mir. Dadurch kann ich die Wut loslassen. Das Schreiben ist die Antwort. Und es ist ein Sich-Wehren gegen diese Zustände.
Haben Sie darüber nachgedacht, dass Sie ins Visier der Rechten geraten könnten – im Buch ist von 10 000er-Listen die Rede?
Tatsache ist, dass, wenn es eine 10 000er-Liste gibt, dann können wir alle draufstehen. Wir müssen die Bedrohung langsam wahrnehmen: Die Bedrohung, die von der AfD kommt, die von Rechtsextremen kommt. Diesen Hass gegen die Mitte der Gesellschaft. Und man muss sich klarmachen: Wenn ich Angst habe, wie geht es erst all den Leuten, die migrantisch lesbar sind?