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„Wir erreichen kein sozial anderes Publikum“Stefanie Carp über die neue Ruhrtriennale

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Die Intendantin der Ruhrtriennale spricht über die Zweiklassengesellschaft im Ruhrgebiet.

  1. Kurz vor Beginn der neuen Ruhrtriennale spricht die Intendantin von einer brutalen Zweiklassengesellschaft im Ruhrgebiet.
  2. Europa und der Rückgang der Demokratie werden zentrale Themen sein.
  3. Außerdem erklärt sie uns den neuen Programmpunkt „Hausbesuche“.

In ein paar Tagen beginnt die neue Ruhrtriennale in der Intendanz von Stefanie Carp – mit Musik, Theater und Tanz in alten Kokereien und Maschinenhäusern des Bergbaus sowie der Stahlindustrie. Das große Thema des Festivals wird Europa sein.

Geht es in Ihrem Programm um eine neue Archäologie, um ein neues Erzählen europäischer Geschichte?

Carp Es geht darum, welche Legitimität die Europäer überhaupt haben, sich zu welchen Themen zu äußern. Es geht darum, dass die Versprechen von Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit nie eingelöst wurden, dass die Demokratie nie wirklich für alle gegolten hat, insofern sehr verbesserungsbedürftig ist und stattdessen derzeit zunehmend zerstört wird. Die zentral en Arbeiten, die inhaltliche Setzungen machen, sind „All the Good“ von Jan Lauwers‘ Needcompany, „Nach den letzten Tagen. Ein Spätabend“ von Christoph Marthaler und „Evolution“ von Kornél Mundruczó.

Sie glauben, die europäische Demokratie ist in Gefahr?

Carp Es gibt einige Länder, die sich schon abgewandt haben von der Demokratie und wenn die AfD bei uns noch mehr Zulauf erhält, kann es hier auch so werden. Demokratie stört den Kapitalismus. Man kann leichter Profite machen, wenn man Menschen unterdrückt und kontrolliert statt ihnen Rechte zu geben. Das wussten schon die Nazis. Ich glaube, wir sind wieder auf einem ähnlichen Weg.

Mit Marthaler und Mundruczós Produktion haben sie zwei Arbeiten im Programm, die explizit auf den Holocaust reagieren. Warum haben Sie darüber letztes Jahr nicht gesprochen, als Sie wegen der Einladung einer israelkritischen Band in d er Kritik standen?

Carp Das war mir zu billig. Es gab ja auch gar kein Interesse von irgendjemandem daran, die Wogen zu glätten. Im Gegenteil, es sollten möglichst große Wogen aufgeworfen werden. Das war halt eine Kampagne, und in Kampagnen geht es nicht um objektive Darstellung.

Es begann 2002 unter Gerard Mortier

Dauer vom 21. August bis zum 29. September 2019.

Tickets und Infos unter Telefon 0221 280210 sowie unter http://www.ruhrtriennale.de.

Urprung Die Ruhrtriennale ging aus der Internationalen Bauausstellung Emscher Park hervor; das erste Festival fand 2002 statt unter Gründungsintendant Gerard Mortier statt.

Ende vergangenen Jahres hieß es dann, Sie hätten mit Jürgen Reitzler einen „Aufpasser“ zur Seite gestellt bekommen.

Carp Das war eine von wem auch immer erfundene Schlagzeile. Es ist nichts anderes passiert, als dass ich einen neuen Betriebsdirektor gesucht, gefunden und engagiert habe.

Warum startet die Ruhrtriennale diesmal nicht in einer Industriehalle, sondern im Audimax der Ruhr-Universität Bochum?

Carp Alle anderen Arbeiten finden ja in Industriehallen statt und man kann auch mal Ausnahmen machen. Christoph Marthalers Arbeit hall uziniert ein imaginäres Weltparlament. Eigentlich wollte er ein wirkliches Parlament finden. Die Parlamente im Ruhrgebiet sind aber alle zu klein. Das Audimax passte großartig und hat insofern direkt mit der Industrie-Geschichte der Region zu tun, da die Universitäten sozusagen anstelle des Kohleabbaus gebaut wurden, als Teil des Strukturwandels. Politiker sind zu Recht stolz darauf, dass man heute so viele Studierende hat wie früher Bergleute.

Erfahren Sie das Ruhrgebiet als Region des Wissens?

Carp Es gibt hier unglaublich gute Fakultäten, viele Studierende, viele Museen, Kunstvereine, Stadttheater und andere Kulturstätten. Was ich aber auch erfahre ist eine extreme soziale Spaltung, eine brutale Zweiklassengesellschaft. Es gibt einen Teil der Bevölkerung, der an der Kultur und Wissensgesellschaft teilnimmt, aber offenbar gar nicht unbedingt in der Region lebt, sondern an- und abreist. Daneben gibt es vie le Menschen, die hier dauerhaft in einer erschütternd verlorenen, prekären Situation leben. Das sind Leute, denen ich in der Straßenbahn begegne und die das Wort „Ruhrtriennale“ sicher noch nie gehört haben. So krass wie hier habe ich den Klassenunterschied fast nirgendwo sonst erfahren.

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Viele Intendanten haben öffentlichkeitswirksam behauptet, dass sie alle Teile der Bevölkerung ansprechen wollen. Zuletzt Johan Simons mit „Seid umschlungen“.

Carp Man kann das behaupten, aber wenn man es wirklich wollen würde und es auch politisch gewollt wäre, dann kann das kein einzelner Intendant schaffen. Es bräuchte einen viel längerfristigen Prozess, eine radikal andere Programmierung und eine andere Form von Intendanz, die vielleicht gar nicht Intendanz heißt. Man muss sich nicht der Illusion hingeben, dass die Menschen aus Duisburg-Marxloh zu William Kentridge gehen würden, dabei würde es ihnen möglic herweise sehr gut gefallen, weil es eine Form der Kunst ist, die jeden erreichen kann.

Bemühen Sie sich trotzdem um andere Publikumsschichten?

Carp Es gibt künstlerische Projekte wie „#nofear“ oder Barbara Ehnes‘ „Solidarität (Αλληλεγγύη)“ oder im letzten Jahr Schorsch Kameruns „Nordstadt Phantasien“. Gerade die letztere Arbeit hat sich für ein diverses Publikum geöffnet. Aber wir wollen uns nicht naiver machen als wir sind: Mit einzelnen Projekten dieser Art, auch wenn sie sehr gelungen sind, wird man niemals ein sozial anderes oder diverseres Publikum kreieren können, auch nicht über einzelne Aktionen wie auf dem Marktplatz zu stehen und Programme zu verteilen. Dafür würde es wie gesagt ein ganz anderes Konzept der Ruhrtriennale benötigen. Man kann sagen: Umso jünger die Künstlerinnen und Künstler sind und wenn ihre Werke in Richtung Performance und Schauspiel gehen, desto j� �nger und diverser ist das Publikum. Aber das Publikum der Ruhrtriennale ist ein etabliertes Musiktheater-Publikum. Das hat übrigens auch mit dem Zeitraum zu tun: Die Ruhrtriennale findet in den Semesterferien statt, und die meisten Studierenden sind nicht vor Ort.

Im Editorial ihres neuen Programms kündigen Sie eine ganz neue Form des Publikumskontakts an: Hausbesuche.

Carp Ja, man kann mich buchen, ich komme dann und stelle das Programm vor – einzelnen Menschen, Gemeinschaften oder bei Partys. Die, die mich einladen sind total offene, neugierige, interessante Menschen, alle sehr sympathisch, meist aus dem oberen Mittelstand, häufig Menschen nach ihrem Arbeitsleben, die jetzt Zeit haben, sich mit Kultur zu beschäftigen. Letztes Jahr habe ich aus eigener Initiative heraus eine Zeitung von Geflüchteten besucht, „Neu in Deutschland“, und sie zur Produktion „The Factory“ von Mohammad Al Attar eingelade n. Ich musste aber wirklich mehrfach darauf hinweisen, dass die Inszenierung tatsächlich in arabischer Sprache gespielt wird. Ich hatte den Eindruck, dass es viel Überzeugungsarbeit braucht, um einen Geflüchteten zu überreden, ins Theater zu gehen. Während des Publikumsgespräches nach der Vorstellung wurde plötzlich sehr viel in arabischer Sprache aus dem Publikum mit den Schauspielern kommuniziert; das hat mich gefreut.

Max Florian Kühlem führte das Interview.