Wladimir Kaminer schweift beim Erzählen gerne einmal ab - so auch bei seiner ersten Kölner Lesung im neuen Jahr. Ein Abend voller thematischer Spagate.
Krieg, Katzen und Grünkohl-FesteBestseller-Autor Wladimir Kaminer liest im Gloria Köln

Wladimir Kaminer bei seiner Lesung im Gloria
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Wladimir Kaminer hatte eine lange Nacht hinter sich. „Von Silvester bis zum 3. Januar“, erklärte er den Besuchern zu Beginn seiner ersten Lesung des Jahres, die er noch leicht wackelig, aber kopfmäßig recht fit wie immer im Gloria absolvierte. Aber diesmal war alles etwas anders, davon zeugt schon der Titel seiner jüngsten Geschichtenkollektion: „Frühstück am Rande der Apokalypse“ beginnt im Februar 2022 — gleichzeitig mit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine.
Kein ganz leichtes Thema für einen Humoristen, der mit belustigtem Wohlwollen das skurrile Treiben seiner Mitmenschen kommentiert. Zumal Kaminer in Moskau geboren wurde und 1990 nach Deutschland übersiedelte. Aber er geht in die Offensive: „Den Urlaub versaut“ lautet die betont flapsige Überschrift des ersten Kapitels, in dem ein Aufenthalt in Las Palmas vom Kriegsbeginn überschattet wird. „Auf der rechten Straßenseite fand gerade eine Weinverkostung statt, auf der linken Seite eine Anti-Kriegs-Demo.“
Zwischen Krieg und Alltagsproblemen
Dabei lernt das Ehepaar Kaminer das Mädchen Swetlana aus Charkiw kennen, das ebenfalls im Urlaub vom Krieg überrascht wurde und nun nicht mehr zurück nach Hause kann. Im Buch berichtet Kaminer auch unumwunden von seiner persönlichen Scham angesichts der bombardierten Krankhäuser und Kindergärten in der Ukraine, macht sich über die durchgeknallten Vorstellungen Putins lustig.
Nicht so im Gloria: Hier geht's zunächst um ein Grünkohl-Fest in Oldenburg, ein Dreckschweinfest im Harz oder ein Abendessen mit Saumagen und „Hirn-Vinaigrette“ in Rheinland-Pfalz. Nachrichten aus dem bekannten Kaminer-Terrain also, mit viel Gelächter begrüßt. Aber das Thema des „unsäglich blöden Kriegs“ klingt immer wieder an. Kaminer ist durchaus bewusst, dass die Einladungen zu derartigen Veranstaltungen auch einem „der letzten ansprechbaren Russen“ gelten.
Der gesamte, rund zweieinhalbstündige Abend ist, wie auch sein aktueller Band, ein Spagat, ein Versuch, das Sterben und die Vernichtung gleich um die Ecke irgendwie mit dem Gewohnten, Alltäglichen zu vereinbaren. Mit der Suche nach dem Ladekabel oder der Frage, welchen der vielen Weihnachtsmärkte man denn besuchen sollte. Ein Muster findet Wladimir Kaminer im Rat seiner Mutter, vor dem Schlafengehen keine Nachrichten anzusehen.
Alpträume vom Atomkraftwerk
Albträume hat sie trotzdem, von der Sprengung des Atomkraftwerks Saporischschja etwa. Darauf lässt die Verwaltung den Berliner Fernsehturm in eine riesige Wasserfontäne verwandeln, auf den Massen nackter Menschen zurennen, um die Radioaktivität abzuwaschen. Kaminer tröstet seine Mutter mit dem Hinweis auf das neue James-Webb-Teleskop, mit dem sich ganz bestimmt ein Planet ohne Putin und Atomraketen finden lasse.
Er macht sich aber gleich darauf in bewährter Manier über die Zukunftsängste lustig, die ein Kulturmerkmal der Deutschen seien, über Zeugen Jehovas und Versicherungsvertreter, die herannahende Katastrophen verkündeten. Manchmal passen die Episoden und Teile des Abends nicht wirklich gut zusammen. Dann trägt Kaminer eine possierliche Geschichte aus dem Band „Alle meine Katzen“ seiner Gattin Olga vor. Ach ja, darauf war er gekommen, weil so viele Geflüchtete aus der Ukraine ihre Katzen mitgebracht hatte, auch wenn das ziemlich kompliziert war.
Er ist der König der Abschweifung, aber das Ominöse ist stets spürbar, mindestens im Hintergrund. Kaminer spricht von kurzsichtigen Pessimisten und weitsichtigen Optimisten, rechnet sich selbst offensichtlich den letzteren zu. Immerhin leistet er sich im Kapitel „In der Kalahari“ aber einen zivilisationskritischen Seitenhieb, wenn er den Affen im Zoo unterstellt, sie hätten gar keinen Ehrgeiz, auf der „Evolutionstreppe“ weiter voran zu kommen: „Blöd waren sie nicht. Wir als ehemalige Schimpansen waren schließlich gerade dabei, uns zurückzuentwickeln.“
Und ganz zuletzt, als die Kaminers Swetlana im Februar 2023 auf Gran Canaria wiedertreffen, auf einem Karnevalsumzug unter dem Motto: „Studio 54 — die Brutstätte des Hedonismus“, erfahren sie, dass die junge Frau nicht in die Ukraine zurückwill. Dort sei ja alles zerbombt. Und die Antwort auf die Frage, ob sie mit einem baldigen Ende des Krieges rechne, geht in der lauten Musik unter. Zum Abschluss liest Wladimir Kaminer noch eine lustige Geschichte ganz ohne Putin und Krieg vor. Aber die stammt aus einem älteren Buch.
Zur Person
Wladimir Wiktorowitsch Kaminer wurde 1967 in der Sowjetunion geboren und ist ausgebildeter Toningenieur für Theater und Rundfunk. Am Theaterinstitut seiner Geburtsstadt Moskau studierte er Dramaturgie, bevor er 1990 in die DDR übersiedelte.
Seinen Durchbruch als Schriftsteller feierte Kaminer mit der 2000 veröffentlichten Kurzgeschichtensammlung „Russendisko“. Diese wurde im Jahr 2012 mit Matthias Schweighöfer, Friedrich Mücke und Christian Friedel in den Hauptrollen verfilmt. Kaminer ist auch Mitgründer der Schriftstellervereinigung PEN Berlin. Mit seiner Frau und seinen Kindern lebt er in Berlin. (EB)