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Lídia Jorge„Erbarmen“-Roman gibt Blick in den Alltag eines Heimes frei

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Lídia Jorge

Lídia Jorge

Lídia Jorges Roman „Erbarmen“ bietet einen schonungslosen, aber tröstlichen Einblick in das Leben betagter Menschen im Altenheim.

„Die meisten meiner Gefährten haben längst vergessen, was in der Natur geschieht. Sie leben hier eingeschlossen, als wären sie in den Schoß ihrer Mutter zurückgekehrt, merken nicht einmal, dass die Jahreszeiten wechseln. Ich nicht.“ Schonungslos ist der Blick, den die portugiesische Schriftstellerin Lídia Jorge in ihrem Roman „Erbarmen“ auf das Leben hochaltriger Menschen richtet.

Auf das Aufnahmegerät gesprochen

Sie hatte den Auftrag von Ihrer Mutter bekommen: Sie möge ein Buch über sie schreiben mit dem Titel „Erbarmen“. Es geht um den Alltag im Altenheim mit dem vielversprechenden Namen „Hotel Paraíso“, das als Suchbegriff zuerst auf Freizeitanlagen an paradiesischen Stränden vermuten lässt.

Jorges Protagonistin Dona Alberti sitzt zwar geschwächt im Rollstuhl. Dennoch erzählt sie einem Aufnahmegerät aus einem Leben voller Sinnlichkeit, erinnert sich an Naturerfahrung in ihrem Garten: „Ich sehe, wie die Mandel-, Feigen- und Pfirsichbäume auf den umliegenden Grundstücken zu bloßen Stämmen werden und ihre kahlen Äste jeden Morgen wie in die Luft gezeichnete Arabesken erscheinen.“ Dona Alberti pflegt eine geradezu „ungeheure“ Selbstdisziplin, gerät mit ihrer Tochter, einer Schriftstellerin in Konflikt, da deren Bücher keine Bestseller sind. Die Konflikte werden in dem Buch nicht vertieft.

Aber es wird ersichtlich, wie sie das Leben eines Elternteils bestimmen können, für das die Kinder mütterliche Reflexe entwickeln. Der Roman ist keine Abrechnung mit dem Pflegesystem, kein Lamento auf chronische, mehrfache Erkrankungen. Es ist ein Blick nach innen. Der Bezug zur Gegenwart, zur Außenwelt stellt sich durch die Schilderung der Pflegerinnen dar. Auch hier endet es nicht in einer kritischen Analyse des Systems. Vielmehr ist es eine lyrische Bestandsaufnahme einer veränderten Welt, die nicht aufhört, vom Menschen wahrgenommen und hinterfragt zu werden.

Menschlicher Kampf auf engem Raum

Es ist ein tröstliches Buch, das nichts beschönigt — nicht die Exkremente, die Gerüche. Aber immer bewahrt die Autorin die Würde, zeigt den menschlichen Kampf auf engem Raum. „Ich fülle meine Seele mit unzähligen Besuchen in der Welt, an die ich mich erinnere, als ob ich noch einmal jene ferne Natur besäße. Ich, Maria Alberta Nunes Amado, nenne dies alles mein Leben.“

Lídia Jorge: „Erbarmen“, Secession Verlag, Zürich 500 S., 30 Euro.