Mit ihrem vierten Album „Lux“ sprengt die katalanische Ausnahmekünstlerin Rosalía alle Grenzen der Popmusik. Ein Meisterwerk zwischen Oper, Flamenco und Elektronik, das neue Maßstäbe setzt.
Maximalismus statt MinimalismusRosalía revolutioniert mit „Lux“ die Popmusik

Das Albumcover von „Lux“
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Ob sie nicht denke, dass „Lux“ ihre Hörerinnen und Hörer überfordern könne, wurde Rosalía letzte Woche im Pop-Podcast der „New York Times“ gefragt. „Absolut“, entgegnete sie und klang dabei kein bisschen besorgt, sondern geradezu diebisch erfreut. Jetzt ist es also draußen, dieses 18-Song-Mammutmeisterwerk, und nach ein paar Stunden mit „Lux“ fühlt man sich durchaus durchgerüttelt, aber mehr in Form einer genussvollen Überwältigung. Man lehnt sich zwar weit aus dem Fenster, fällt aber nicht raus, wenn man sagt: So ein Album wie dieses hat es zuvor noch nie gegeben. Die 33-Jährige aus einem Vorort von Barcelona, voller Name Rosalía Vila Tobella, schreibt mit „Lux“ Musikgeschichte.

Rosalía bei einem Auftritt in Sevilla
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Man ist sofort mittendrin. „Sex, Violencia y Llantas“ heißt das erste Stück, „Sex, Gewalt und Autoreifen“, und es bietet in 140 Sekunden schon mal einen Abriss auf das, was auf einen wartet. Ruhig beginnt das Piano, dann erhebt Rosalía die Stimme, erst sacht, dann anschwellend, das Orchester setzt ein, aber nicht irgendeins, sondern das London Symphony Orchestra, dessen teure Dienste sich Rosalía auf kompletter Albumlänge gegönnt hat, die Nummer wogt ein paarmal zwischen laut und leise, plötzlich ist sie vorbei. Als nächstes „Reliquia“: Streicher, große Stimme, ein Chor, übermannende Opulenz, die finalen zehn Sekunden donnernde Breakbeats. Es folgt „Divinize“, englischer Text, „through my body you can see the light“, singt Rosalía, wieder Beats, wieder Orchester, der rhythmische Song ist wohl der, der einem handelsüblichen Pop-Hit strukturell am nächsten kommt. Darauf „Porcelana“, eine richtig schön episch-üppige Nummer, wieder mit Chor, und im Anschluss das ultradramatische „Mio Cristo Piange Diamanti“ („Mein Herz weint Diamanten“), eine Miniatur-Oper in viereinhalb Minuten, am Ende zieht Rosalía das Wort „sempre“ gesanglich locker 30 „e“ lang. Tja, und das war bloß der erste von vier Sätzen dieses vom Aufbau her einem Klassikwerk nachempfundenen Albums, dessen zweiter Satz mit der bombastisch-barocken Single „Berghain“ beginnt, über die ja schon viel geschrieben wurde. Opernartiger Gesang trifft hier wieder auf die Londoner Philharmoniker, Schrägpoplegende Björk (definitiv eine Ideengeberin für Rosalía) singt einen Vers, der US-Alternative-Musiker Yves Tumor rezitiert den Satz „I’ll fuck you till you love me“ von Boxer Mike Tyson, und Rosalía selbst singt in deutscher Sprache. „Seine Angst ist meine Angst/ Seine Wut ist meine Wut/ Seine Liebe ist meine Liebe/ Sein Blut ist mein Blut“. Hat man alles so noch nicht gehört.
Rosalías „Lux“ ist schlicht ganz große Kunst
Ob das Herz von „Lux“ nun tatsächlich im Takt der Klassik schlägt, mit Pop, Flamenco, Fado, Walzer, elektronischer Musik, Reggaeton, Hip-Hop und allem anderen als zusätzlichen Elementen, oder ob es ein – im weitestmöglichen Sinne – Pop-Album mit starker Klassikfärbung ist, darüber debattiert zur Stunde die internationale Popkritik. Aber die Antwort ist völlig egal. „Lux“ ist schlicht ganz große Kunst. Ganz gleich, wen die aktuell übrigens mit dem deutschen Schauspieler und Sänger Emilio Sakraya liierte Rosalía sonst noch dazuholt, auf „La Perla“ etwa das mexikanisch-amerikanische Trio Yahritza Y Su Esencia um Sängerin und Gitarristin Yahritza Martínez oder auf „Memória“ die Fado-Sängerin Carminho – musikalisch bleibt das alles stets schlüssig, auch das alte Volkslied „Mundo Nuevo“ fügt sich ein ins Rosalía-Universum. „Mein vorheriges Album war Minimalismus“, sagte sie der New York Times über ihr von Reggaeton und experimentellem Pop geprägtes 2022er-Werk „Motomami“. „‘Lux‘ ist Maximalismus.“ Sie sagt auch, dass ihr „Lux“ viel Geduld abverlangt habe. Rosalía singt in insgesamt 13 Sprachen: Katalanisch, Spanisch, Arabisch, Deutsch, Englisch, Französisch, Hebräisch, Italienisch, Japanisch, Latein, Mandarin, Portugiesisch, Sizilianisch und Ukrainisch. Zwischen zwei und drei Jahren lang hat sie an „Lux“ gearbeitet, allein die Übersetzung der Texte und die passgenaue Phonetik hätten rund ein Jahr in Anspruch genommen. Sie habe auch irrsinnig viel gelesen, alles aufgesaugt und umgesetzt, was ihren von Kindheit an neugierigen und wissensdurstigen Geist gekitzelt habe. Femininer Mystizismus und Spiritualität, so ziemlich alles rund um Schmerz, Sex, Sünde, Gnade, Glaube, Verzweiflung und Erlösung, besonders intensiv habe sie sich mit weiblichen Heiligen auseinandergesetzt. Auf dem Albumcover trägt Rosalía eine Mischung aus Nonnengewand und Zwangsjacke, ihr Blick auf den katholischen Glauben, mit dem sie aufwuchs, ist ein dezidiert kritischer.
Selbst Teilzeit-Avantgardistinnen wie Charli xcx, Lady Gaga oder Beyoncé wirken konventionell im Vergleich mit der Katalanin. Und im Zeitalter der ultra-autobiographischen Popmusik, in dem sich ein Trennungsalbum wie jüngst Lily Allens „West End Girl“ wie eine Aneinanderreihung von Klatschgeschichten konsumieren lässt und die Streaming-Algorithmen immer generischere Versionen ohnehin schon durchschnittlicher Musik befördern, wirkt „Lux“ geradezu verwegen. Und kann vielleicht als Weckruf dienen. Schließlich war Pop ja mal innovativ und regelbrechend, man denke nur mal an David Bowie oder Queen. Die Ambitionslatte für zukünftige Produktionen der Kollegenschaft dürfte seit „Lux“ nun ein ordentliches Stück höher hängen. Andererseits: Nicht alle besitzen einen solch umfangreichen kreativen Zauberkasten wie die Spanierin. Rosalía studierte Flamenco-Gesang an der Escola Superior de Música de Catalunya (Höhere Musikschule von Katalonien), kurz ESMUC, in Barcelona. Das stark vom Flamenco geprägte zweite Album „El Mal Querer“, mit dem ihr 2018 der Durchbruch gelang, war zugleich die Bachelorarbeit ihres Studiums.
„Lux“ ist jetzt so etwas wie ihre Habilitation. Am Schluss von „La Perla“ kommt Rosalía aus dem Kichern kaum noch heraus. Sie hat allen Grund, um fröhlich zu sein.
