Der berühmte „Zauberberg“ ist eines Olga Tokarczuks Lieblingsbüchern. Was sie an Thomas Manns Klassiker kritisiert, verarbeitete sie jetzt in ihrem eigenen Roman „Empusion“.
Nobelpreisträger unter sichWas Olga Tokarczuk bei Thomas Mann kritisiert

Olga Tokarczuk gewann 2019 den Literaturnobelpreis.
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Dass Ruhm nicht nur angenehme Seiten hat, musste natürlich auch Olga Tokarczuk erfahren. „Durch meine Frisur werde ich leichter erkannt“, erzählt die Litaratur-Nobelpreisträgerin mit Rastalocken bei ihrem phil.Cologne-Auftritt im WDR.
Und so würde immer häufiger der Wunsch nach Fotos mit ihr an sie herangetragen. Nun sei sie, erzählt sie im Gespräch mit Moderatorin Olga Mannheimer, „fasziniert, dass die Kultur des Bildes zur Kultur des Selfies und des Horrors“ mutiert ist.
Aus dieser Erkenntnis entstand das Bilderbuch „Herr Unverwechselbar“. Darin erzählt sie von einem Mann, der so viele Fotos von sich selbst macht, dass er sich schließlich auflöst.
Zerstückelte Leichen im Wald
Noch ein wenig gruseliger geht es in Tokarczuks neuem Roman „Empusion“ (erschienen bei Kampa) zu: In einem Kurort verschwinden Jahr für Jahr junge Männer, deren Leichen man später zerstückelt im Wald findet. Doch das Buch ist nicht nur Tokarczuks Auseinandersetzung mit dem Genre der Schauergeschichte, sondern gleichzeitig eine Verbeugung und ironische Auseinandersetzung mit einem ihrer Lieblingsbücher: Thomas Manns „Zauberberg“.
Hier wie dort kommt ein junger Mann in einen Luftkurort, um dort seine Lungenprobleme auszukurieren, und muss sich mit seiner neuen, ungewohnten Umgebung auseinandersetzen.
Sie habe das Buch zum ersten Mal als Teenager gelesen, erzählt die 61-jährige Polin, und danach noch rund vier weitere Male. Und erst bei der letzten Lektüre stellte sie fest: „Es gibt keine handelnden Frauenfiguren, sie tauchen entweder als Neben- oder Funktionsfiguren auf. Diese Abwesenheit kennzeichnet die großen Klassiker des 20. Jahrhunderts.“
Frauenfeindliche Dialoge
Unter diesem Gesichtspunkt entstanden die Passagen, für die Olga Tokarczuk nach Erscheinen des Buches in ihrer Heimat kritisiert wurde: Die debattierende Herrenrunde, die zusammen in einem Gästehaus in der Nähe der Kurklinik logiert, befleißigt sich einer derben Frauenfeindlichkeit.
Doch die Dialogpassagen entsprangen nicht Tokarczuks Fantasie: Sie stellte sie aus Texten der Jahrhundertwende zusammen – fragte sich dabei aber auch: „Ist das schon weit weg oder ist das immer noch da?“ Die Antwort ist natürlich letzteres.
Was passiert mit der Hauptfigur?
Zu gerne hätte man noch gehört, wie die Idee zur schlussendlichen Metamorphose der Hauptfigur Mieczyslaw Wojnicz entstanden ist – und inwiefern Tokarczuk damit auf die restriktive Politik Polens und die Stimmung im Land in Bezug auf Minderheiten reagiert.
Doch genauso wie man beim Krimi den Täter nicht verrät, muss jede Leserin und jeder Leser die Chance haben, sich von dieser Auflösung überraschen zu lassen – findet die Autorin. Und man muss ihr recht geben.
