Provozierend und überraschendLondoner schreiben „Eine neue Geschichte der Menschheit“

Archäologe und Anthropologe David Wengrow (l.) und der 2020 verstorbene Kulturanthropologe David Graeber haben „Eine neue Geschichte der Menschheit“ geschrieben.
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London – Sind die Menschen nach Jean-Jacques Rousseau (1712-1778) von Natur aus gut, aber von Privatbesitz und Zivilisation verdorben? Oder sind sie nach Thomas Hobbes (1588-1679) bösartige Wölfe, im Krieg aller gegen alle nur durch die Staatsgewalt zu zähmen? Die wirkmächtigen Thesen des Genfer Schriftstellers und des Philosophen aus Wiltshire prägen unser westliches Denken bis heute.
In ihrem ambitionierten Buch „Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit“ sind sie für den Ethnologen David Graeber und den Archäologen David Wengrow Trugschlüsse, ungeeignet die Geschichte in ihren großen Zügen darzustellen. „Sie sind erstens schlicht und einfach unwahr, zweitens mit schlimmen politischen Konsequenzen verbunden und drittens dafür verantwortlich, dass die Vergangenheit langweiliger als nötig erscheint.“
„Eine neue Geschichte der Menschheit“ bietet provozierende Thesen
Graeber, Mitstreiter der Protestbewegung „Occupy Wall Street“, lehrte zuletzt an der London School of Economics. Wengrow ist seit 2011 Professor am University College London. Zehn Jahre lang tauschten die beiden die neuesten Erkenntnisse in ihren Fächern aus. Kurz nach dem Abschluss des Manuskripts verstarb Graeber. In ihrem über 560-seitigen Wälzer (107 Seiten Anhang) voller überraschender Einsichten und provozierender Thesen lassen sie von Mesopotamien bis Mexiko keinen Stein auf dem anderen stehen.
Ihre Leitfrage: Wo gab es Handlungs- und Lebensoptionen, die vom angeblich alternativlosen Gang der Geschichte abweichen? Vehement bestreiten sie die weit verbreitete These, dass der Übergang von der Landwirtschaft zur Stadt zwangsläufig unfreie Menschen hervorgebracht habe.
Frühe Menschheit erlebt „Karnevalsparade der politischen Formen“
Frühe Menschen waren alles andere als einfältige Tölpel, sondern kreativ-spielerische, selbstbewusste Organisatoren des sozialen Wandels, unbeeindruckt von den Zumutungen der Macht. Experimentierfreudig durchlebten sie eine „Karnevalsparade der politischen Formen“, die wir wohl als „anarchistisch“, „kommunistisch“, „autoritär“ oder „egalitär“ bezeichnen würden. Graeber und Wengrow finden dafür auf der Grundlage neuen Materials viele faszinierende Beispiele.
Schon im steinzeitlichen Catahoyuk in der anatolischen Hochebene lebten die Menschen gleichberechtigt zusammen. Neue archäologische Funde lassen darauf schließen, dass sich in der politischen Entwicklung im mexikanischen Teothiuacán des 3. Jahrhunderts n.Chr. eine bemerkenswerte Wendung vollzogen haben muss. Statt auf Paläste und Viertel für die Elite setzte man auf eine Form des sozialen Wohnungsbaus, wohl um den Andrang aus dem Umland zu bewältigen.
Ureinwohner Nordamerikas lebten frei und autonom
Es waren die Ureinwohner Nordamerikas, die in Freiheit und Autonomie lebten und die europäischen Aufklärer beeinflussten. Die Indigenen lebten in Gemeinschaften von Gleichen unter Gleichen und lachten die Männer, die sie beherrschen wollten, einfach aus.
Sie lebten das, was Graeber und Wengrow als wahre menschliche Freiheiten sehen: Sich seiner Gemeinschaft entziehen, die Befehle anderer zu missachten und die soziale Realität neu zu gestalten.
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„The Dawn of Everything“, so der Titel des Originals, ist ein ketzerisches, ja anarchistisches grandioses Manifest gegen eurozentristische Geschichtsschreibung und das unaufgeklärte Selbstbild moderner Gesellschaften, das die Debatten bereichern wird.
David Graeber/David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Deutsch von Henning Dedekind, Helmut Dierlamm und Andreas Thomsen, Klett-Cotta, 667 S., 28 Euro