Schauspiel KölnRegisseur Nuran David Calis über sein neues Stück „Mölln 92/22“

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Mölln

Das Haus in Mölln, in dem drei Menschen 1992 bei einem rassistischen Anschlag starben. 

  • Am Freitag, 8. April, feiert das Stück „Mölln 92/22“ Premiere am Schauspiel Köln.
  • Regisseur Nuran David Calis sprach mit Carolin Raab über seinen persönlichen Bezug zu dem historischen Ereignis hinter dem Stück und darüber, wie wichtig es ist, Betroffene selbst zu Wort kommen zu lassen.

Köln – Ihr Stück „Die Lücke“ hat weite Kreise gezogen, zum Beispiel die Entstehung des „Birlikte“-Freundschaftsfestes. Beflügelt es Sie als Regisseur, wenn eine Ihrer Produktionen so einen Effekt hat?

Wir hatten gar nicht damit gerechnet, dass das Stück so einen Nerv in unserer Gesellschaft trifft. Wir wollten eigentlich etwas Lokales auf die Beine stellen. Doch auf einmal waren so viele andere Theater und interessierte Zuschauer da und wollten noch mehr über das Thema erfahren.

Wie fügt sich das neue Stück, „Mölln 92/22“, in Ihre bisherige Arbeit am Schauspiel Köln ein? Könnte man es sogar als vierten Teil der Keupstraßen-Trilogie bezeichnen?

Nein, es ist ein eigenständiges Projekt. Trotzdem steht es in der Kontinuität der rassistischen Angriffe, die über dieses Land hineingebrochen sind. Wie wir wissen, sind die Ermittlungsbehörden erst einmal nur an der Aufklärung einer Straftat interessiert, wodurch die Täter in den Fokus rücken. Aber die Auseinandersetzung mit den Opfern fällt immer sozusagen „hinten raus“, und diesen Geschichten widmen wir uns dann.

Der Brandanschlag von Mölln

In der Nacht zum 23. November 1992 warfen zwei Neonazis Brandsätze in mehrere, von türkischen Familien bewohnte Häuser in Mölln (Schleswig-Holstein). Bei dem Anschlag starben eine 51-jährige Frau, ihre zehnjährige Enkelin und ein 14-jähriges Mädchen, neun weitere Menschen wurden teils schwer verletzt. Das Urteil für die Täter (damals 19 und 25) lautete zehn Jahre Jugendhaft beziehungsweise lebenslange Haft, aus der sie mittlerweile wieder entlassen wurden. (crb)

Ich selbst bin 1996 geboren. Wenn ich mich mit dem bundesdeutschen Rechtsextremismus der frühen 90er-Jahre befasse, denke ich zuerst an die Ausschreitungen in Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen. Warum haben Sie sich entschieden, gerade den Anschlag von Mölln zum Thema zu machen?

Die von Ihnen genannten Angriffe waren natürlich ebenfalls Schreckenstaten und sehr schlimm für die betroffenen Menschen. Aber dort ist niemand zu Tode gekommen. In Mölln sind Menschen in ihrer Wohnung verbrannt. Mitten in der Nacht sind Brandsätze in die Wohnung einer friedlich schlafenden Familie geflogen, und drei Menschen sind gestorben. Deshalb war diese Tat eine Zäsur, ein Wendepunkt. Auch für meine Eltern, die Teil der Migrationsgesellschaft sind.

Also haben Sie einen ganz persönlichen Bezug zu diesem Ereignis?

Ja, ich erinnere mich daran, dass meine Mutter und mein Vater danach wochenlang nachts die Lichter in unserer Wohnung angelassen haben. Für mich hat es also eine persönliche Bedeutung, aber zum Beispiel für Sie und Ihre Eltern nicht. An genau diesem Riss arbeite ich. Mit dem Bombenanschlag in der Keupstraße war es dasselbe: Für viele aus der Mehrheitsgesellschaft, die nicht zu dem Opferkreis gehört haben, war das etwas, was innerhalb dieser Kommune aufgearbeitet werden sollte. Das Theater soll ein Raum sein, um Empathie zu schaffen, um die Mehrheits- und die Minderheitsgesellschaft zueinander finden zu lassen.

Es geht also auch darum, die Zuschauer aufzurütteln und ihnen bewusst zu machen, dass theoretisch jeder von rechtsextremistischer Gewalt betroffen sein kann?

Genau, man denke zum Beispiel an die Ermordung des Regierungspräsidenten Walter Lübcke in Kassel. Auch die Drohbriefe des NSU richteten sich oft an Politikerinnen und Politiker aus der Mitte der Gesellschaft. In den Fokus der Extremisten rücken jetzt alle Menschen, die für die freiheitlich-demokratische Grundordnung stehen. Ob man ein Opfer rassistischer Gewalt werden kann, bemisst sich nicht mehr allein nach der Herkunft.

In Inszenierungen wie „Die Lücke“ bringen Sie oft professionelle Schauspieler und Laien beziehungsweise Betroffene zusammen. Wird das in „Mölln“ wieder der Fall sein?

Ja. Dadurch, dass die Betroffenen – in verschiedenen Formen – Teil des künstlerischen Prozesses sind, wird nicht nur über sie gesprochen, sondern sie kommen selbst zu Wort. Das ist der große Vorteil dieser Methode. Die Profi-Schauspieler rücken das Ganze dann in einen künstlerischen Zusammenhang. Die Stücke sind ja eine Auseinandersetzung zwischen mehreren Gruppen, die sozusagen an einer gemeinsamen Sprache arbeiten.

Im Ankündigungstext zu „Mölln“ heißt es, dass die Perspektiven der von Rassismus Betroffenen in der deutschen Geschichtsschreibung bisher fehlen. Wie versucht das Stück, das zu ändern?

Es gibt kaum Unterstützung, wenn man Opfer rassistischer Gewalt wurde, oder Raum, darüber zu erzählen. Mit ihren Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, ist für die Opfer häufig mit Scham und einer Retraumatisierung verbunden, deshalb überlegen sie sich dreimal, ob sie das tun. Aus meiner Sicht brauchen wir künstlerische Lotsen, die die Funktion des Brückenbauers, des Unterstützers, des Allianzenformers übernehmen und diesen Menschen aus ihrer Isolation helfen. Das ist ein Prozess, der Zeit benötigt hat. Vielleicht braucht es ein oder zwei Generationen, um diese Erzählungen aufzugreifen und eine Stimme zu finden, um denen zu helfen, die davon unmittelbar betroffen waren.

Regisseur Nuran David Calis

Der Regisseur Nuran David Calis 

Sehen Sie also bei den jüngeren Generationen eine besondere Verantwortung?

Ja. Ich sehe an den neuen Kräften, zum Beispiel Regisseurinnen und Regisseuren wie Pınar Karabulut, Ersan Mondtag und anderen, dass sie ein viel stärkeres Bewusstsein für politische Themen haben. Sie eignen sich die großen Themen wie Rassismus, Migration, Feminismus an und arbeiten sich daran ab. Diese Künstler verfügen über sehr starke ästhetische Formen und das Handwerkszeug des Erzählens, das hat eine unheimliche Kraft.

Auch Ihre Stücke haben sehr oft gesellschaftspolitische Bezüge. Können Sie sich vorstellen, am Schauspiel Köln auch mal eine reine Komödie zu inszenieren?

Im Moment nicht. Ab und zu habe ich zwar durchaus mal einen Shakespeare gemacht. Aber wenn ich die Chance bekomme, solche Geschichten zu erzählen wie bei „Die Lücke“ und „Mölln 92/22“, nutze ich die Plattform des Theaters, um solche Inhalte sichtbar zu machen. Diese Themen sind für mich einfach zu wichtig, und ich komme durch sie auch aus den Komfortzonen des Regiebetriebs heraus.

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