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Theater Bonn„Woyzeck“ erschreckend gegenwärtig

Lesezeit 4 Minuten
Die Ärztin (Julia Kathinka Philippi (links) und Margret (Birte Schrein) im Woyzeck in Bonn.

Marie (Sandrine Zenner) (links) und Margret (Birte Schrein) im Woyzeck in Bonn. 

Sarah Kurze inszeniert nach Georg Büchner am Theater Bonn. Die Menschen darin bewegen sich zwischen Containern.

Georg Büchners „Woyzeck“ ist Fragment geblieben, der früh verstorbene Autor konnte die knapp 30 Szenen nicht mehr in eine letztgültige Ordnung bringen. Man muss als Regisseurin oder Regisseur also nicht unbedingt glühender Verfechter des Regietheaters sein, um sich einen freien Umgang mit dem Drama zu gestatten, dazu fordert es geradezu heraus.

Monster der Theatergeschichte

Für den Zuschauer, der mit den entsprechenden Erwartungen kommt, hält Sarah Kurzes Inszenierung am Theater Bonn dennoch Überraschungen bereit. Hier begeht Woyzeck nach etwa zwei Dritteln der Aufführung Selbstmord, und nicht nur das: Er steht danach wieder auf und macht weiter.

Aber warum auch nicht? Der „Woyzeck“, verfasst in den Jahren 1836 und 1837, ist schließlich eines der großen Monstren der Theater- und Literaturgeschichte. Gefühlt 60, 70 Jahre zu früh dran, formal Expressionismus, Brecht, Surrealismus und Dadaismus vorwegnehmend, hatte Büchner hellsichtig die Schrecken erkannt, die Wissenschafts- und Fortschrittsgläubigkeit, Kapitalismus, aber auch neue Formen des Irrationalismus' zu seiner Zeit heraufbeschworen. Schrecken, die im späteren 19. und im 20. Jahrhundert ihre volle Wucht entfalten sollten und ganz offensichtlich noch wirkmächtig sind.

Weil in dem Stück so viel steckt, ist Kurzes Entscheidung nachvollziehbar, textlich meist nah an den bekannten Fassungen zu bleiben und auf oberflächliche Aktualisierungen zu verzichten. Abgesehen von den Containern, in denen die Personen leben und die an Übergangswohnungen für Flüchtlinge erinnern mit ihrem vermutlich exakt nach irgendeiner Norm abgemessenen Raum.

Davor urinieren Woyzeck und der Hauptmann ständig in Pappbecher, die anschließend der Ärztin zu Forschungszwecken übergeben werden: der in jeder Hinsicht vermessene Mensch in einer vermessenen Welt. Dass er mit seinen Ideen aus Aufklärung, Romantik und Idealismus nicht weit kommt, machen Ärztin und Hauptmann als eitle und lächerliche Vertreter der höheren Stände (Julia Kathinka Philippi und Alois Reinhardt) hinreichend klar.

Verschwörungstheorien

Das Gerede von Vernunft und Moral, Natürlichkeit oder Freiheit des Individuums entlarvt vor allem Woyzecks Kamerad Andres (Riccardo Ferreira) als Ideologie der wohlhabenden Klassen. Denn Woyzeck (Paul Michael Stiehler) hat keine Zeit für hehre Ideale und muss seine Marie und das uneheliche Kind versorgen, deshalb ist er ständig zwischen drei Jobs unterwegs, läuft entgeistert und rastlos im Kreis, stößt gegen die Container, entwickelt wüste Verschwörungstheorien und Paranoia. Andres und auch Maries Freundin Margret (Birte Schrein), sonst eher Nebenfiguren, bleiben hier stets präsent und warnen in zusätzlich aufgenommenen, textfremden Passagen vor den „Fehlern, die bei der Erschaffung der Welt gemacht wurden“, und Margret darf böse orakeln: „Warum sollten Ideen nicht töten dürfen, wie Vulkane oder Überschwemmungen?“.

Dass jeder Mensch „ein Abgrund“ und daher von der Menschheit insgesamt nichts Gutes zu erwarten sei, ist Büchners Grundhaltung auch im „Woyzeck“, Sarah Kurze möchte das aber offensichtlich noch einmal betonen.

Das erklärt wohl auch die eigenartige Struktur der Aufführung, die im ersten Teil das Eifersuchtsmotiv völlig ausspart: Zunächst bringt sich Woyzeck aus Verzweiflung um, weil er den gesellschaftlichen Anforderungen an Moral und Leistung nicht genügen kann. Im zweiten Teil wird das Eifersuchtsdrama nachgereicht und Woyzeck muss ein weiteres Mal töten, diesmal Marie.

Immerhin gelingt Sandrine Zenner in dieser Rolle die auffälligste darstellerische Leistung des Abends: Die rein körperliche Anziehung durch den Hauptmann tritt zugunsten des finanziellen Aspekts in den Hintergrund. Zenners Marie ist sehr selbstbewusst, sachlich und praktisch veranlagt, bis zum schreienden Egoismus: Den eigentlich von Margret ihrem „Bub“ zugedachten Apfel schlingt sie kurzerhand selbst herunter.

Schuss in den Himmel

Margret verteilt aber auch die Mordwaffen, und als Marie längst wieder aufgestanden ist und alle wieder ihre alten Rollen spielen, als also ein neuer Kreis beginnt, erzählt ihre Freundin noch einmal das düster-nihilistische Märchen vom Kind, das allein auf der Welt zurückgeblieben ist: „Alles tot“. Dann zückt Margret die Pistole und schießt in den Himmel: Das Ende einer Inszenierung, die eigentümlich zwischen Treue zum Text und gewagten Eingriffen mit überschaubarem Nutzen schwankt und daher trotz eines engagierten Ensembles nicht ganz überzeugen kann.

Etwa 100 Minuten ohne Pause.Wieder: 2., 7., 8. sowie 21. Dezember. Kartentel.: 0228-77 8008. Am Michaelshof 9.