In der Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“ schreiben Schriftsteller, Wissenschaftlerinnen und Aktivisten, Künstlerinnen und Journalisten über den Krieg in der Ukraine. Mitherausgeberin Kateryna Mishchenko sprach mit der Rundschau im Telefonat aus Kiew.
Ukrainische Autorin Kateryna Mishchenko„Das ist der Versuch, sich zu heilen“

Nach einem russischen Raketenangriff räumen Anwohner die Trümmer eines Privathauses in der Ukraine auf.
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Sie forderten in einer deutschen Talkshow bereits zwei Wochen vor dem Angriff Russlands auf die Ukraine Sanktionen im engen Umkreis Putins. Greifen sie?
Ja, ich glaube, die greifen schon. Es ist eine Situation des Nebels des Krieges, so lautet ja der Titel unseres neuen Buchs. Da hat man das Gefühl, es wurde schon so viel gemacht. Doch Russland bleibt trotzdem dran. Das ist der Punkt: Es wird dort lange diesen Schein geben können, dass alles funktioniert. Und dann kippt es plötzlich. Deshalb muss man konsequent weitermachen.
Der Kriegsausbruch jährt sich, was hat sich in der westlichen Wahrnehmung geändert?
Vieles war für westliche Länder damals unvorstellbar. Zum Beispiel die energetische Unabhängigkeit Deutschlands von Russland. Jetzt ist es vorstellbar geworden und funktioniert. Das heißt, dass frühzeitige Maßnahmen viele Menschenleben retten können. Gleichzeitig denke ich, es ist jetzt nicht an der Zeit, jemanden schuldig zu erklären, oder etwas vorzuwerfen. Man muss daraus lernen, dass eine schnelle und starke Reaktion Menschen retten kann.
In Ihrer Anthologie „Aus dem Nebel des Krieges“ berichten ganz unterschiedliche Autoren über ihre Erfahrungen in der Gegenwart der Ukraine. Wer schreibt?
Teilweise kannte ich die Autoren und habe sofort an sie gedacht, weil ich sie mit den Fragen assoziierte, die mich beschäftigt haben. Katharina Raabe und ich möchten als Herausgeberinnen eine Zwischenreflexion ziehen. Auch wenn wir das Ende des Krieges nicht sehen, passiert trotzdem ganz viel. Das Buch ist ein Zeitdokument.
Auch russische Autoren wie Alissa Ganijewa kommen zu Wort. Wie ist der Kontakt zu russischen Intellektuellen?
Im Buch schreibt nur eine dagestanische Autorin mit russischem Hintergrund. Privat gibt es Kontakte, öffentlich kaum. Nach dem Schock, dass unser Nachbarland so etwas hier tun kann, brauchen die Ukrainer Distanz.
Gibt es trotzdem Dialog?
Ich kann diese Position für mich so übersetzen: Es ist die Arbeit von russischen Intellektuellen, die schreckliche soziale Lage ihrer Gesellschaft und ihrer Regierung kritisch zu analysieren und diese Analyse anderen Gesellschaften zu bieten. Das ist nicht unser Job. Leider beobachte ich manchmal, dass es einigen Intellektuellen darum geht, ihre Privilegien zu sichern und sich von den Geschehnissen in ihrem Land zu distanzieren. Viele russische Intellektuelle müssten erst dazu kommen, dass ihre Arbeit völlig wirkungslos geworden ist. Das ist ein großes Versagen der Gesellschaft aller Klassen, die in Russland waren. Egal, ob sie pro Putin waren oder gegen.
Im Buch berührt die Absurdität, dass ein hässlicher Panzer aus Beton getarnt wird. Alle Denkmale müssen unsichtbar werden, damit das Umfeld keine Bomben abbekommt. Welche Geschichte bewegt Sie?
Im Januar habe ich eine Geschichte gelesen von einer Frau in Cherson. Ihr Mann war Leutnant der Nationalgarde und starb am 24. Februar 2022. Im März wurde sie von drei Männern, wahrscheinlich vom russischen Sicherheitsdienst, zu seinem Grab gebracht und sie haben dann über ihrem Kopf geschossen. Später wurde sie gefoltert, geschlagen, zwei ihrer Fingernägel wurden rausgezogen, Hände mit Heißwasser begossen. Die Folter mit dem Strom nannten die Besatzer „Telefonat mit Selenskyj“. Es passierte, weil ihr Mann für die Ukraine gekämpft hat. Es gibt tausende von schrecklichen Geschichten: Kinder, die den Tod ihrer Eltern gesehen haben oder die jetzt ohne Hände und mit Prothesen sind. Alles Mögliche, was man sich vorstellen kann.
Journalisten erhalten eine juristische Ausbildung, dass ihre Aussagen von einem Tribunal angenommen werden.
Wir haben zwei Autorinnen in dem Buch, die sich in einem Projekt zusammengetan haben, wo Juristen mit Journalisten und Datenanalytikern arbeiten. Sie nehmen die Zeugenschaft so auf, dass es sich als Material für das Gerichtsverfahren anwenden lässt. Journalisten sind oft als erste vor Ort, wenn die Verbrechen noch ganz frisch sind. Man kann in realer Zeit dokumentieren und nicht später nach alten Spuren suchen. Dieser neue Umgang mit Evidenz ist eine wichtige Erfahrung für ukrainische Journalisten. Die Informationen werden viel besser geprüft, damit sie als Dokumente im Gericht gelten. Das beeinflusst journalistische Qualität.

Kateryna Mishchenko
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Sie sind Autorin und Verlegerin, arbeiten jetzt mit dem Suhrkamp-Verlag. Was ist mit ihrem Verlag in der Ukraine?
Mein Verlag arbeitet gerade im Standby, es ist ein kleiner Verlag und keine Arbeitsplätze sind davon abhängig. Neue Projekte kommen jetzt erst langsam auf die Schiene. Aber die Akzente sind derzeit sowieso neu, unsere Leser haben mit anderen Dingen zu tun. Ich arbeitete als Herausgeberin an dem Buch von Suhrkamp. Das liegt für mich in der Logik meiner Verlagsarbeit, in der ich auch vor dem Krieg zu politischen, aber auch kulturwissenschaftlichen Themen Anthologien herausgebracht habe.
Inwiefern verändert der Krieg das Schreiben?
Die Perspektive verändert sich und ganz pragmatisch auch die Recherche, die ich in Kiew machen wollte. Jetzt ist das nicht mehr möglich, weil viele Einrichtungen nicht mehr so arbeiten, wie vor dem Krieg. Bei solchen Geschehnissen hat man das Gefühl, es ist eine völlig andere Zeit und die Vergangenheit wird plötzlich irrelevant. Wie kann man da jetzt eine Kontinuität beibehalten, damit die Risse nicht so radikal sind im Bewusstsein?
Wie lässt sich die Arbeit in Kriegszeiten fortsetzen?
Intellektuelle müssen überlegen, was jetzt wichtig ist, wo sie Akzente setzen, wie sie unmittelbar Menschen unterstützen können. Für Ärzte, Lehrer oder Menschen im Feuerwehrdienst ist es dagegen unglaublich wichtig, ihre Arbeit so weiterzumachen wie bisher.
Es gibt Berichte von Gruppen, die in der Ukraine gemeinsam die Häuser wieder aufbauen.
Das ist die Logik des Überlebens und der Menschlichkeit. Das soziale Miteinander muss beibehalten werden. Das funktioniert auch institutionell: Kommunale Dienste kommen praktisch gleichzeitig mit der Armee in befreite Städte, um alles sofort zu reparieren. Ich war jetzt ein bisschen außerhalb von Kiew. Wege und Autobahnen, die ganz stark zerstört waren, sehen wieder normal aus.
Eine enorme Kraft, parallel zur Zerstörung…
Das ist der Versuch, sich schnell zu heilen. Menschen brauchen Resilienz und Ausdauer. Dafür benötigen sie eine Art zu leben. Wahrscheinlich ist das kein normales Leben mehr, aber schon ein Leben. Für junge Leute ist es wichtig, sich zu engagieren.
Viele Frauen sind jetzt alleinerziehend. Ändern sich gerade die Rollen der ukrainischen Männer und Frauen?
Und viele Frauen sind in der Armee. Das ist eine sehr fundamentale Entwicklung, aber ich habe hier noch keine Diskussion darüber miterlebt, das braucht Zeit. Die Ukraine ist mit den unmittelbaren Kriegsgeschehnissen beschäftigt, mit dem Überleben, mit der Front und was in den nächsten Wochen passiert und was zu erwarten ist. Die Frage nach sozialem Gewebe, was bleibt und was funktioniert – das wird sich später zeigen.
Wie kann man in Deutschland eine angemessene Sicht auf das gewinnen, was passiert?
Susanne Strätling hat in unserem Buch einen Beitrag zur Zeitenwende geschrieben. Als Slawistin spricht sie unter anderem das Problem an, dass die deutsche Slawistik sehr russlandzentriert ist. Und ich glaube, es ist eine sehr wichtige Frage, wie die Wahrnehmung der Ukraine in Deutschland institutionalisiert ist. Es reicht nicht, dass jemand in einer Talkshow oder bei anderen Veranstaltungen auftritt. Wir brauchen die Präsenz der Ukraine und nicht die Russland vermittelnde Art des Sehens. Wir brauchen eine unmittelbare Reflexion und ein unmittelbares gleichberechtigtes Wissen um das Land.
Die Kulturwissenschaftlerin Aleida Assman spricht von der Feuerprobe Europas.
Das ist eine der größten ethischen Auseinandersetzungen in unserer gegenwärtigen Geschichte. Ja, und das ist die Idee von der Europäischen Union, dass das Zusammenleben einem Krieg vorbeugen sollte. Und nun muss dieses Zusammenleben neu aufgebaut werden, so dass solche Kriege nicht mehr möglich sind. Jetzt scheint das eine utopische Idee zu sein, aber es muss als Ziel erklärt und erkämpft werden.
Lesung im Literaturhaus
Kateryna Mishchenko, 1984 in Poltawa geboren, ist Autorin, Übersetzerin, Herausgeberin und Mitbegründerin des ukrainischen Medusaverlags. Sie lebt und arbeitet in Kiew und Berlin und ist Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin.
Katharina Raabe, Kateryna Mishchenko: Aus dem Nebel des Krieges. Die Gegenwart der Ukraine, Suhrkamp, 240 Seiten, 20 E.
Am 24. Februar, 19:30 Uhr, spricht sie im Literaturhaus.