Mit acht Jahren kam die Schauspielerin Valery Tscheplanowa aus dem sowjetischen Kasan nach Deutschland. Ihr erster Roman „Das Pferd im Brunnen“, der am 15. August erscheint, hat autobiografische Züge. Jan Sting führte mit ihr das erste Interview zum Buch.
Valery Tscheplanowa„Ich musste sehr viel zurücklassen“

Schauspielerin Valery Tscheplanowa schreibt in ihrem ersten Roman "Das Pferd im Brunnen" über ihre Kindheit in Kasan.
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Als Nathan der Weise wurden Sie gerade bei den Salzburger Festspielen gefeiert. Nun erscheint Ihr erster Roman. Was ist das für ein Gefühl?
Der Nathan war ja gar nicht geplant. Ich bin eingesprungen. Nun passt das auf eine merkwürdige Art, denn der Nathan ist ja ein Denker, Sprecher. Und Vieles, was ich gefragt wurde zum Nathan, von dem hatte ich viel auch aus meinem Buch heraus zu sagen.
Die Frauen in Ihrem Buch gehen ihren eigenen Weg. Sei es mit Gartenarbeit oder der Arbeit im Prothesenzentrum. Ist es eine Autobiografie?
Die Grundlage waren tatsächlich autobiografische Figuren. Ich merkte allerdings, da schon viele gestorben sind, dass ich gar nicht an so viele Informationen komme. Dann stellte ich fest, dass ich andere Figuren kenne, die ähnlich gelebt haben. Ich habe einiges erfunden, einiges ist dazu gekommen aus anderen Familien. So habe ich ein Bild gebaut.
Was für eine Geschichte. Ein Pferd landet in einem Brunnen. Haben Sie als Kind davon geträumt?
Ich bin immer zu diesen Brettern gegangen und mein Onkel sagte, „darunter ist ein Brunnen, da ist einmal ein Pferd hineingefallen.“ Das fand ich unglaublich toll. Später habe ich erfahren, dass diese Geschichte ganz alt ist. Schon meine Großmutter wusste, dass das der Brunnen ist, in den das Pferd reingefallen ist.
Ein Figürchen, eine Spanielhündin mit Welpen, kommt häufiger vor. Das klingt nach Geborgenheit, die es an vielen anderen Stellen nicht gibt. Gibt es die Figur noch?
Die gab es und ich fand es berührend, dass sie gewandert ist. Die war erst in Deutschland und wurde dann tatsächlich von meiner Großmutter geklaut – mir, einem Kind! Und ich stellte fest, als ich ihre Wohnung erbte, dass diese kleine Figur immer noch existiert. Ich fand es schön, dass sie so eisern in ganz unterschiedlichen Zusammenhängen auftauchte. In der Wohnung, in der mein Onkel gelebt hat, war sie auch eine Zeit lang.
Sie haben auch einen kleinen Pudel, was bedeutet er Ihnen?
Er ist ein wichtiger Teil meines Lebens, gerade weil ich viel reise. Er ist ein Fixpunkt. Er kommt mit ins Theater. Wir haben unsere Rituale. Zwischendrin, während der Aufführung, gehe ich mit ihm raus. Das finde ich wundervoll, dass ein Hund einen auf bestimmte Weise zwingt, zu strukturieren.
Sie kamen als Achtjährige nach Deutschland in einer Zeit, in der Gorbatschow die Modernisierung der Sowjetunion einleitete. Was hat sich da für die Frauen in Ihrer Familie geändert?
Oh ja, da hat sich viel geändert. Ich habe noch in einer Struktur gelebt, die ja noch sehr stabil war. Es gab viele Kindertagesstätten und solche Sachen. Aber es war auch so, dass viele Frauen ihre Kinder einfach zur Arbeit mitgenommen haben. Ich habe große Teile meiner frühen Kindheit in der Uni verbracht bei meiner Mama in den Gängen. Es gab so ein großes Büro, das ist eine meiner ältesten Erinnerungen. Da stand ein riesiger Schrank und der teilte das Zimmer. Und hinter dem Schrank waren die Kinder. Von dort sind wir ausgeschwärmt.
Walja, die Jüngste im Roman, spielt allein in einem tristen Vorgarten an der stark befahrenen B77 in einem norddeutschen Dorf. Haben Sie sich nach Kasan zurückgesehnt?
Ganz ehrlich – ja. Es war mir nicht klar, was da geschieht. Auch die wirtschaftlichen Umbrüche – das war mir alles nicht bewusst. Ich musste sehr viel zurücklassen als wir gingen. Meine Urgroßmutter und meine Mutter, meine gesamte Familie. Ich habe das akzeptiert, da ich meine Mutter schon als Kind sehr geschätzt habe, wenn sie etwas beschloss. Aber es war wirklich ein Zerreißen. Es zerriss eine Realität und das war nicht ganz einfach.
In Kasan war Stalin in Kur. Was ist das für ein Ort?
Die Stadt ist älter als Moskau und ursprünglich muslimisch, wurde dann durchmischt. Es ist ein Landstrich, der immer sein eigenes Süppchen gekocht hat. Bei der Fußball-WM spielten die Deutschen gegen die Koreaner in Kasan und schieden aus – ein besonderes Spiel. Die Stadt ist mit ihren zwei Millionen Einwohnern sehr dem Tourismus zugewandt. Es ist alles auf Englisch. Eine sehr saubere, gepflegte Stadt und eben durchmischt von russischen Zwiebeltürmchen und Moscheen.
Man gewinnt in Ihrem Buch den Eindruck, es wird immer weiter gekocht. Zwiebeln werden angebaut. Egal ob Stalin oder Perestroika. Wladimir Kaminer sagt, Russland sei entpolitisiert.
Das ist gut gesagt. Ich beschreibe das ja auch, am Anfang im dritten Kapitel „Streichholzschachteln“: Mein Onkel, der immer über dieselben Steinstufen geht. Obwohl so viel passiert. Es wird nichts repariert, die verschieben sich nur immer weiter. In Russland gibt es, und darüber wollte ich auch erzählen, im Alltag eine große Stabilität dessen, wie man lebt, fernab dem, was politisch passiert. Und das halte ich für sehr gefährlich, für sehr Mahnens wert. Ich möchte den Menschen zurufen „holt euch eure Selbstbestimmung, sucht sie euch, sucht euch den Willen dazu. Auch ein Bürger darf entscheiden, muss nicht glauben.“ Das ist etwas, das mich tief erschüttert hat, als ich nach Russland zurückkehrte und feststellte, wie viel Platz die Religion eingenommen hat in den Köpfen. Diese Rückkehr der Muttergottes von Kasan, die wie ein Popstar empfangen wird. Zum einen berührend, zum anderen furchtbar.
Auch eine Art Droge…
Ja, Droge oder Ersatzobrigkeit, Ersatzwelt, Parallelwelt, die aufrechterhalten wird, da man das Gefühl hat, man kann nicht mitentscheiden.
Bei aller Verhärtung nach dem russischen Angriff auf die Ukraine ist es wichtig zu erfahren, wie die Lebensgeschichten in Russland gestaltet sind. Was war das Ihr Anliegen, sie zu erzählen?
Es war ein merkwürdiges Aufeinandertreffen. Rowohlt hat mich im Dezember vorletzten Jahres, also vor Kriegsbeginn, angesprochen. Und es war eine Idee Sophie Nieders, meiner Lektorin. Damals war ich relativ überrascht. Ich habe immer geschrieben, aber nur für mich selbst. Meistens Gedichte. Dann sofort der Gedanke, über Nina zu schreiben. Und als der Krieg ausbrach war da eine größere Dringlichkeit. Ich dachte, ja ich will von mir erzählen, wie das entstanden ist. Davon, dass selbst ich, die im Kommunismus geprägt wurde, sehr lange gebraucht habe, meine Position zu verteidigen oder zu verstehen: Was ist das für ein Konflikt zwischen Männern und Frauen im Westen? Den gab es in Russland in der Form nicht. Alle haben gearbeitet und verdient. Ich habe richtig gebraucht, zu verstehen, dass es hier ganz andere Konflikte gibt.
Welche Rolle spielt der Kommunismus noch?
Der Kommunismus, der als abgegrast und misslungen gilt, war etwas sehr Lebendiges für die Menschen, etwas sehr Wichtiges. Er hat auch sehr angenehme Dinge erzeugt. Menschen werfen das nicht weg. Es prägt, man hat auch bestimmte Dinge geliebt. Das macht die russische Bevölkerung bestechlich. Sie haben die Verwandlung nicht vollzogen in die Selbstbestimmung. Sie leben zum sehr großen Teil in ihrer Erinnerung.
Ihre Mutter, Oma und Uroma. Was haben sie Ihnen an festen Eigenschaften mit auf den Weg geben?
Was ich sehr faszinierend an Nina fand, dass sie Erziehung manchmal so drastisch anging. Das mag vielleicht erschrecken, dass jemand so etwas tut. Es gibt diesen Moment im Kindergarten. Sie bohrt in der Nase. Solange, bis die Kinder „igitt“ sagen. Und sie fragte, „warum macht ihr das denn dann?“ Das habe ich ungeheuer an ihr geschätzt. Dass sie nicht lange Reden geschwungen hat, dass sie etwas getan hat oder einen in eine Situation gebracht hat, in der man selbstständig auf eine Art etwas begreift, ohne dass einem irgendetwas erklärt wird. Meine eigene Mutter hat mir selten etwas großartig erklärt, sondern sie hat mich in Situationen geworfen und versucht mir in der Situation beizustehen. Sie hat plötzlich aufgehört, mit mir Russisch zu sprechen als wir nach Deutschland kamen. Und ich musste sehr schnell Deutsch lernen, weil sie mit mir kein Russisch sprach. Sie war aber bei mir und sagte, das musst du jetzt schnell lernen.
Für die Rolle des Nathan hatten sie etwas mehr als drei Wochen. Sie mussten sehr schnell lernen. Was hat Sie bei diesem Wagnis bestärkt, welches Vertrauen war da?
Diese Fähigkeit, in eine Situation reinzugehen und wirklich zu vertrauen, „das werde ich schon können.“ Und ich weiß noch nicht, ob ich es kann, aber ich mache mir vorher keine Meinung darüber, ob ich's kann. Das ist etwas, das mir meine Familie mitgegeben hat. Wenn ich das Gefühl habe, ich kann da ja sagen, dann weiß ich noch nicht, ob ich das schaffe. Aber ich gehe erst mal rein.
Valery Tscheplanowa: "Das Pferd im Brunnen", Rowohlt, 192 Seiten, 22 Euro.