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„Was wir mit uns tragen“Gedichtband von Amanda Gorman trägt moralische Dringlichkeit

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Bei Bidens Amtseinführung trug sie eines ihrer Gedichte vor.

Köln – Am 20. Januar 2021 ist Amanda Gorman in die Geschichte eingegangen. Mit dem bewegenden Vortrag ihres Gedichts „The Hill We Climb“ machte sie aus der Amtseinführung Joe Bidens als US-Präsident ein Fanal. Ob der Text zugleich auch Literaturgeschichte markiert, war seinerzeit schon umstritten.

Dieser Streit erhält neue Nahrung. Mit „Was wir mit uns tragen – Call Us What We Carry“ erscheint nun auch in Deutschland die erste Gedichtsammlung Gormans, die auch „The Hill We Climb“ enthält: Wirkungsvoll an den Schluss gesetzt ist es der beste Text des Bandes.

Die auf 432 Seiten versammelten Gedichte gruppieren sich zu einer Poesie der moralischen Dringlichkeit, aber nicht zu einem Ensemble wirklich guter Literatur.

Lyrik als Therapeutikum

„The Hill We Climb“: Eigentlich hätte die ganze Gedichtsammlung so heißen können. Gorman spricht nicht nur mit dem großen „Wir“ erneut ein Kollektiv ein, in das sie sich als Stimme der besseren Moral selbst einreiht, sie formt auch ihre Gedichtfolge zu einem Läuterungsweg, der direkt in ein lichtvolles Morgen führen soll.

„Dieses Buch ist eine Flaschenpost. / Dieses Buch ist ein Brief. / Dies Buch lässt nicht locker“: Diese Zeilen aus dem ersten Gedicht „Schiffsmanifest“ weisen den ganzen Band als Botschaft, ja diese Lyrik als Therapeutikum aus. Das Gedicht ist bei Gorman kein intimes Medium, sondern Manifest und Meinung. Das Problem: Tremolo ersetzt wirklichen Ausdruck. Dabei werden sich viele bestens angesprochen fühlen. Die Poetin öffnet ihren Band für die unabweisbar kollektive Erfahrung der Zeit: Die Corona-Pandemie. „At First – Am Anfang“: „Wir wurden bezahlte Fachkräfte des Schmerzes, / spezialisiert im Leiden, / Asse der Qualen“.

Ihr literarisches Defizit beginnt aber genau da, wo es ihr nicht gelingt, für menschliche Passion Sprachbilder zu finden, die über moralische Mahnung hinausgehen könnten. „Da die Erde rund ist, / ist da kein Weg wegzulaufen / voreinander, denn selbst dann / kommen wir zueinander zurück“: Solche Zeilen driften in die Nähe der gedanklichen und sprachlichen Plattitüde, leider.

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Dabei unternimmt Gorman viel, um ihren Texten künstlerische Weihe zu verleihen. Sie experimentiert mit vielen, auch graphischen Formen. Gorman wendet Wörter um, damit verborgener Sinn sichtbar werde, forscht nach Sub- und Kontexten. Seltsam nur, dass sie zur gleichen Zeit Sprache ein naiv anmutendes Vertrauen entgegenbringt. Kann man in den Worten „verankert & unversehrt“ sein, gerade auf dem Hintergrund jenes Unheils, das Donald Trump mit seinen Sprachnachrichten via Twitter anzurichten vermochte? Amanda Gorman tritt dem entgegen wie eine Mischung aus Jeanne d’Arc und Mutter Teresa der Poesie. Ihr Einsatz beeindruckt, ihre Lyrik nicht. Eine Stärke hat ihr Band indessen: Die Partien, in denen sie den historischen Verzweigungen von Sklaverei, Unfreiheit und Diskriminierung nachspürt, überzeugen als Forschungen und Fundstücke im Medium der Literatur. Das Kapitel „Memoria“ ist gerade deshalb das stärkste dieses Buches. Ansonsten lädt sich Gorman einfach zu viel auf. .

Amanda Gorman: Was wir mit uns tragen – Call Us What We Carry. Gedichte. Zweisprachige Ausgabe. Deutsch von Marion Kraft und Daniela Seel. Hoffmann & Campe. 432 S., 28 Euro.

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