Jetzt greift die Ukraine mit Seedrohnen im Schwarzen Meer an. Die Hauptphase der Offensive hat nach Ansicht von Experten aber noch nicht begonnen. Was droht noch?
Analyse zum Krieg im Schwarzen MeerWas die Ukraine mit den Drohnen-Angriffen erreichen will

Das Landungsschiff "Olenegorsk Gorniak" im Hafen von Noworossijsk. Bei einem ukrainischen Seedrohnenangriff auf den russischen Schwarzmeerhafen von Noworossijsk ist nach Angaben aus Kiew ein Landungsschiff schwer beschädigt worden.
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Drohnenkrieg im Schwarzen Meer: Gleich zweimal hat die Ukraine russische Schiffe erfolgreich angegriffen. In der Nacht zum Freitag riss eine ukrainische Seedrohne ein Loch in die Backbordseite des russischen Landungsschiffs „Olenegorsk Gorniak“. Einen Tag später war der vom russischen Militär genutzte Chemikalientanker „Sig“ das Ziel, hier wurde der Maschinenraum beschädigt. Möglicherweise stand auch die Krim-Brücke von Kertsch – erneut – im Fokus solcher Angriffe. Was will die Ukraine damit erreichen?
Sind die Angriffe völkerrechtlich legitim?
Russland hat die Ukraine militärisch überfallen und damit völkerrechtlich auch sein eigenes Territorium zum Kriegsgebiet gemacht. Die Ukraine darf militärisch legitime russische Ziele angreifen – Regierungsgebäude in Moskau ebenso wie das Landungsschiff nahe dem südrussischen Hafen Noworossijsk. Allerdings legen die Unterstützer der Ukraine aus Sorge vor einer Eskalation Wert darauf, dass Kiew mit West-Waffen nur Ziele auf eigenem Territorium angreift. Die USA haben auch klargestellt, dass sie der Ukraine nicht zu den Angriffen auf Moskau raten.
Die Krim ist dagegen – besetztes – ukrainisches Gebiet. Der Tanker versorgte nach US-Angaben russische Truppen in Syrien mit Treibstoff. Nach Kiewer Darstellung transportierte er auf dem Rückweg verdeckt Waffen – deshalb hatte die Ukraine schon im Juli eine Korvette angegriffen, die ihm Geleitschutz gab.
Warum setzt die Ukraine Seedrohnen ein?
Neben Torpedos sind Marschflugkörper klassische Schiffsabwehrwaffen. Sie stürzen sich aus großer Höhe auf das angegriffene Schiff, durchschlagen das Deck und detonieren in Inneren. So hat die Ukraine im April 2022 mit dem selbst entwickelten „Neptun“-System den Raketenkreuzer „Moskwa“ versenkt. Rückgrat der ukrainischen Schiffsabwehr sind aber die US-Marschflugkörper „Harpoon“. Die Ukraine kann sie derzeit nur von Land aus einsetzen und damit einen 120 bis 200 Kilometer tiefen Streifen entlang der von ihr kontrollierten Küstenabschnitte schützen.
Die „Olenegorsk Gorniak“ operierte aber mehr als 650 Kilometer vom ukrainisch kontrollierten Gebiet entfernt. Möglich werden solche Fernangriffe durch von der Ukraine selbst entwickelte Seedrohnen. Kiew verwendet mittlerweile die dritte Generation – ferngesteuerte Boote mit einer Sprengladung, die das angegriffene Schiff seitlich rammen. Vermutlich hat die Ukraine solche Drohnen auch am 17. Juli gegen die Brücke von Kertsch eingesetzt.
Welche Folgen hat der Drohneneinsatz?
Die Ukraine versucht so zwei Ziele zu erreichen. Das erste fällt in die Rubrik „Retourkutsche“. Mit Aufkündigung des Getreideabkommens hatte Moskau das gesamte nördliche Schwarze Meer von Donaudelta bis zum Norden Georgiens zum Kriegsgebiet erklärt – mit dem Ziel, Handelsschifffahrt zu ukrainischen Häfen zu unterbinden. Jetzt, am Samstag, ließ Kiew die Gegenerklärung folgen: Vom 23. August an betrachtet die Ukraine sechs russische Schwarzmeerhäfen als Risikozone, in der man die Sicherheit von Handelsschiffen nicht garantiert. Mit den Drohnen hat die Ukraine ihre Angriffsfähigkeit demonstriert – eine starke Bilanz für ein Land, das praktisch keine Marine mehr hat. Damit, so die Hoffnung in Kiew, werden Versicherungen keine Fahrten in russische Schwarzmeerhäfen mehr decken.

Der russische Lenkwaffenkreuzer "Moskwa" wurde im April 2022 von der Ukraine versenkt.
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Zweites Ziel aus ukrainischer Sicht: die russische Militärlogistik schädigen. Russland hat die bereits 2014 okkupierte Krim mit Militärstützpunkten übersät. Die „Olenegorsk Gorniak“ diente den russischen Angreifern als Fähre, um die Kertsch-Brücke zu umgehen – ihr Straßenteil kann seit dem Angriff vom Juli nur noch von Pkw befahren werden. Und jeder Luftalarm führt zur Vollsperrung. Die Drohnenangriffe wirken mit weiteren ukrainischen Aktionen zusammen: Zerstörung von Munitions- und Treibstoffdepots (jüngst in Feodosia) oder Angriffe auf die wichtigste Verbindung der Krim zum russisch besetzten Hinterland (Richtung Melitopol) über die Tschonhar-Brücken. Die Bahnbrücke ist nicht mehr befahrbar, die Straßenbrücke hat die Ukraine am Sonntag erneut attackiert - ebenso wie offenbar eine Ausweichroute über die Arabat-Nehrung. Dabei hatte Russland in der Nacht zum Sonntag ergebnislos versucht, die Luftwaffenbasis bei Chmelnyzkyj in der Westukraine zu zerstören, von der die ukrainischen SU-24-Jets mit britisch-französischen Marschflugkörpern zu solchen Einsätzen abheben.
Wie ist die Lage in der Südukraine?
Die Ukraine versucht so die Krim zu isolieren, die bisher die zentrale Drehscheibe zur Versorgung der russischen Invasionstruppen in der Südukraine ist. Und für den Kriegsausgang ist der Süden entscheidend: Von der Kontrolle über die eigenen Küsten hängen die militärische Sicherheit und das wirtschaftliche Überleben der Ukraine ab.
Gekämpft wird zwar auch im Norden, aber sowohl die russischen Vorstöße auf der Linie Swatowe-Kreminna als auch der ukrainische Druck auf die russischen Besatzer in Bachmut dienen wohl vor allem dazu, Truppen der jeweiligen Gegenseite zu binden. Im Süden aber zwischen dem Ostufer des ehemaligen Kachowka-Stausees und dem Städtchen Wuhledar, wo die Front dann nach Norden abknickt, gibt es mindestens fünf Brennpunkte mit Kämpfen. Minenfelder machen das ukrainische Vorankommen schwer (siehe Kasten). Die Ukraine legt Wert darauf, beim Ort Robotine an der „Surowikin-Linie“ zu stehen, einem von Russland errichteten Graben- und Panzersperrensystem, benannt nach dem inzwischen in Ungnade gefallenen General Sergej Surowikin. Man will einen Teil der Gräben gestürmt haben. Hinzu kommen zwei Brückenköpfe am linken Dnipro-Ufer gegenüber Cherson. Über die Lage hier, die russischen Bloggern große Sorgen macht, schweigen die Ukrainer.
Was könnte Kiew jetzt planen?
Viele westliche Beobachter zeigen sich wegen des langsamen Vorankommens der Ukrainer besorgt – während, wie die US-Journalisten Michael D. Weiss und James Rushton (https://newlinesmag.com/argument/russians-see-ukrainian-progress-where-others-dont/) gezeigt haben, umgekehrt bei russischen Kriegsbloggern Alarmstimmung herrscht: Die Ukraine zerstört systematisch russische Artilleriestellungen und militärische Infrastruktur.
Der Politikwissenschaftler Christian Mölling (https://www.morgenpost.de/politik/article239105741/russland-ukraine-offensive-reserven-experte-moelling-interview.html) ist denn auch wie viele andere Experten der Ansicht, dass die Hauptphase der Offensive noch gar nicht begonnen habe. Ihr Erfolg hänge nicht von der militärischen Einnahme großer Flächen ab. Es könnte zunächst genügen, den ersten Teil der Surowikin-Linie zu durchbrechen und die Bahnstrecke sowie die parallelen Straßen zu sperren, die sich von den Tschonhar-Brücken in West-Ostrichtung durchs russisch besetzte Gebiet ziehen. Dann wären die Besatzer in der Südukraine praktisch abgeschnitten. Die massiven Angriffe auf die Drehscheibe Krim passen dazu.
Die Ukraine könnte so im großen Stil die Cherson-Offensive vom Herbst 2022 wiederholen, die mit dem Abzug der Besatzer aus ihren unhaltbar gewordenen Positionen endete. Allerdings war damals mit General Surowikin ein halbwegs rational operierender russischer Befehlshaber verantwortlich. Was würden die aktuellen Kommandeure um Generalstabschef Waleri Gerassimow in so einer Lage tun? Das gehört zu den vielen Unbekannten in diesem Krieg.
Hintergrund: Minenräumung
Mit riesigen Minenfeldern (nach Kiewer Angaben insgesamt über 200 000 Quadratkilometer) versuchten und versuchen die russischen Angreifer ihre Beute zu verteidigen. Das ukrainische Militär geht von durchschnittlich 1500 Minen pro Quadratkilometer aus. In Kampfzonen „managt“ Russland die Minenfelder, verlegt also durch Minenwerfer immer neue Sprengkörper, während die Ukrainer sich an der Räumung versuchen.
Anfangs hat die Ukraine auch in noch umkämpften Gebieten oft Großgerät eingesetzt: „Miclic“-Systeme, die Sprengschnüre auswerfen und Minen detonieren lassen, sowie Pflüge (etwa am deutschen Räumpanzer „Wisent“). Diese Geräte räumen aber immer nur schmale Gassen frei – und ihr Einsatz fällt natürlich auf und löst russischen Beschuss aus. Deshalb geht die Ukraine verstärkt dazu über, Minen von am Boden robbenden Pioniersoldaten von Hand entschärfen zu lassen. Sie setzt ohnehin, so der britische Militärexperte Jack Watling, zunehmend aufs unauffällige Infiltrieren der russischen Linien statt frontaler Angriffe (https://www.ft.com/content/8e831ab5-c99f-4b59-9b9b-125697f86cf4).
Dieser Wechsel der Taktik hat das ukrainische Vorgehen zwar verlangsamt, begrenzt aber auch die eigenen Verluste. Nimmt man die zerstörten oder beschädigten Waffensysteme als Maßstab – nur das lässt sich einigermaßen unabhängig bewerten –, dann halten sich die russische und ukrainische Verluste die Waage, während normalerweise in der Offensive viel höhere Verluste entstehen als in der Defensive. (rn)