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Analyse zur Lage im Ukraine-Krieg
„Als hätten die Russen den Vorstoß verschlafen“

Lesezeit 5 Minuten
Selenskij bei Treffen

Wolodymyr Selenskyj schätzt die Lage derzeit als positiv ein. 

Köln – Von „guten Nachrichten“ aus der Region Charkiw spricht der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj, ohne ins Detail zu gehen. Nach Einschätzung des US-amerikanischen Institute for the Study of War (ISW) hat die ukrainische Armee dort bis Mittwoch 400 Quadratkilometer Gelände zurückerobert. Das entspricht der Fläche der Stadt Köln. Was ist los im Nordosten der Ukraine?

Offensiven im Nordosten

Selenskyj nennt keine Ortsnamen. Der ukrainische Vorstoß gilt aber vor allem der Stadt Balaklija rund 100 Kilometer südöstlich der Gebietshauptstadt Charkiw. Nach offiziell nicht bestätigen Angaben, die auf dem Online-Dienst Liveuamap dargestellt werden, soll die Ukraine dort inzwischen ein Dutzend Siedlungen befreit haben. Ein ukrainischer Generalstabsoffizier sprach sogar von 20 Siedlungen und einem bis zu 50 Kilometer tiefen Vorstoß. Nach Angaben des ukrainischen Präsidentenberaters Oleg Arestowytsch hat die Ukraine auch eine Straße blockiert, die nach Kupjansk führt – und damit die Zufahrt zu einem wichtigen Versorgungsposten der russischen Angreifer im Donbass.

Nationalistische russische Militärblogger, die sich zuletzt eher linientreu verhalten hatten, reagieren schockiert. Der ukrainische Vorstoß gefährde den Nachschub in Richtung des Logistik-Knotens Isjum, schreibt Autor Rybar auf Telegram. Sie könnten dann den russischen Truppen bei Slowjansk in den Rücken fallen. Blogger Readowka schreibt: „Es ist wichtig zu verstehen, dass von ukrainischer Seite eine ziemlich ernsthafte strategische Offensive im Gange ist.“

Seit Monaten hatte sich die Ukraine demonstrativ auf eine Offensive an ganz anderer Stelle vorbereitet, nämlich im Süden bei Cherson, und Russland so gezwungen, Truppen dorthin zu verlegen. Auch auf Kosten russischer Stellungen bei Isjum. Anders als Blogger Readowka sieht das ISW im Nordosten keinen großen strategischen Schlag. Die Ukraine habe nur klug die Vorteile ausgenutzt, die sich durch die russische Truppenverlegung ergeben hätten – und die Russen überrascht. „Es sieht so aus, als hätten die russischen Kräfte diesen Vorstoß verschlafen und ihn anderswo erwartet“, meint auch der prorussische Kriegsblogger Juri Podoljak, ein gebürtiger Ukrainer, dem 2,1 Millionen Telegram-Nutzer folgen.

Kleinere Erfolge hat die Ukraine auch im Donbass erzielt. Sie eroberte die Orte Staryj Karawan und Ozerne zurück.

Die Kämpfe bei Cherson

Trotz des Überraschungserfolgs im Nordosten steht die Südoffensive bei Cherson nach ISW-Einschätzung im Zentrum der ukrainischen Anstrengungen. Sie sei komplett gescheitert, hatte das russische Verteidigungsministerium gleich zu Beginn getönt – um inzwischen leisere Töne anzuschlagen: Als Erfolg meldet die russische Seite, dass es keine neuen ukrainischen Vorstöße im russisch besetzten Teil des Bezirks Mykolajiw gebe. Das war die nördliche der drei Hauptachsen, die der britische Militärgeheimdienst beim ukrainischen Süd-Vorstoß erkannte. Die zweite liegt ganz im Südwesten, also nahe der Stadt Cherson, und die dritte ungefähr in der Mitte des Kampfgebietes.

Dort war es den Ukrainern schon vor Monaten gelungen, den Inhulez, einen schiffbaren Nebenfluss des Dnipro, zu überschreiten. Sie dürften nach vom ISW erfassten Geodaten einen etwa zehn Kilometer langen Keil in russisch besetztes Gebiet getrieben haben. Würden sie diesen Vorstoß fortsetzen, könnten sie den Dnipro-Staudamm von Nowa Kachowka erreichen. Das wäre dann ein Kriegsplan, über den die staatliche Nachrichtenagentur Ukrinform schon im Frühjahr spekuliert hatte: Die Ukrainer könnten das russisch besetzte Gebiet in drei Sektoren teilen, einen im Norden mit dem Kachowkaer Stausee im Rücken – und zwei Sektoren im Süden, durch den Inhulez getrennt. Die Dnipro-Übergänge haben die Ukrainer ebenso unbrauchbar gemacht wie die Darjiwska-Brücke über den Inhulez. Systematisch greifen die Ukrainer unter anderem mit ihren Himars-Raketenwerfern russische Basen an – auch in Nowa Kachowka und Nachbarorten. So wird es wohl weitergehen, erwartet der britische Verteidigungsexperte Jack Watling: Einen Sturm auf die Stadt Cherson werde es nicht geben, sondern ein systematisches Zermürben der russischen Truppen.

Die Verluste

Dass Russland Truppen von Isjum nach Süden verlegen musste, zeigt, groß die Personalnot in der auf dem Papier zweitgrößten Armee der Welt ist. 190.000 Soldaten hatte Russland anfangs in der Ukraine eingesetzt. 137.000 zusätzliche Soldaten will Präsident Wladimir Putin bis zum 1. Januar gewinnen. Wie die russische Armee die Leute überhaupt ausbilden soll, ist unklar. Dagegen gehen westliche Beobachter davon aus, dass Russland bereits 80.000 Soldaten verloren hat – durch schwere Verwundung, Gefangennahme, Desertion oder Tod. Die Zahl der russischen Gefallenen beziffert der britische Verteidigungsminister Ben Wallace mit 25.000. Die Ukraine nennt mehr als das Doppelte, das ist aber nicht nachvollziehbar. Die Zahl der eigenen Kriegstoten hat Präsident Selenskyj mit 9000 angegeben.

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5540 größere Waffensysteme und Fahrzeuge vom Kampfjet bis zum Lkw hat Russland im Krieg nachweislich eingebüßt – der Internetdienst Oryx zählt jede bestätigte Meldung. Davon wurden 3614 zerstört, oft mit der Besatzung an Bord. Die Ukraine verlor 1561 solcher Geräte (879 zerstört).

Die aktuelle Südoffensive, meint Jack Watling in einer jüngst veröffentlichten Analyse, verfolge lokal begrenzte Ziele. Eine größere Offensive sei 2023 denkbar. Bis dahin, also den Winter über, versuche die Ukraine die Russen in ihren Stellungen festzuhalten, im Süden eben, wo sie ein leichtes Ziel für Raketenschläge sind. Die Ukraine kann von ihren westlichen Partnern Winterausrüstung erwarten – und andererseits, so Watling, dafür sorgen, dass russische Soldaten sich „kalt, nass, hungrig und verzweifelt“ fühlen. Nur so, mit der Aussicht auf eine ernsthaft drohende Niederlage, könne man Russland auch zu ernsthaften Verhandlungen bewegen.