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Interview mit Militärbischof„Christliche Ethik kennt Recht auf Selbstverteidigung“

Lesezeit 9 Minuten
Overbeck

Bischof Franz-Josef Overbeck

Was bedeutet der Ukraine-Krieg für die Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr? Und dürfen wir trotz des Hungers in der Welt Geld in neue Rüstungsvorhaben stecken? Raimund Neuß fragte den katholischen Militärbischof Franz-Josef Overbeck.

Fast drei Jahrzehnte lang haben wir an ein friedliches Zusammenlegen in Europa geglaubt, jetzt sehen wir uns einem Angriffskrieg gegenüber. Bundeswehreinheiten werden nach Osten verlegt, um notfalls das Nato-Bündnisgebiet verteidigen zu können. Was erleben Ihre Militärseelsorger dabei, was macht das mit den Soldatinnen und Soldaten?

Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr blicken spätestens seit der Annexion der Krim mit großer Sorge auf die veränderte geopolitische Situation in Osteuropa. Ihre mahnenden Hinweise, dass ein klares Bekenntnis zu ihrer verantwortungsvollen Aufgabe mit einer Ausstattung und Ausrichtung der Bundeswehr einhergehen muss, die diesen Entwicklungen Rechnung trägt, waren berechtigt. Viele der Soldatinnen und Soldaten treibt jetzt natürlich die seelisch belastende Frage um, welche Szenarien drohen, sollte der Konflikt eskalieren und in Folge eines Angriffs auf ein Nato-Mitglied der Bündnisfall ausgerufen werden. Wenn nun auch Ziele in unmittelbarer Nähe zur polnischen Grenze angegriffen werden, steigt die Gefahr von Zwischenfällen, die aus militärischer Perspektive eine Reaktion notwendig machen könnten. Dessen sind sich die Soldatinnen und Soldaten bewusst. Die Militärseelsorge macht das Angebot, über diese Themen vertrauensvoll ins Gespräch zu kommen – Dabei spielt der Dienstgrad keine Rolle. Wo die Soldatinnen und Soldaten sind, da sind wir!  

Das Christentum ist geprägt von Friedensbotschaften. Sind die jetzt Makulatur, wo sich zu zeigen scheint, dass nur Waffen gegen einen Diktator helfen?

Nein, denn die christliche Friedensethik kennt durchaus das Recht auf Selbstverteidigung. Solange die Gefahr von Krieg besteht, kann man, wenn alle Möglichkeiten einer friedlichen Regelung erschöpft sind, einer Regierung das Recht auf sittlich erlaubte Verteidigung nicht absprechen. Die Anwendung von militärischer Gewalt muss dabei in der rechten Intention geschehen: Es klingt vielleicht paradox, aber ein gerecht handelnder Soldat muss durch sein Kämpfen Frieden stiften wollen.

Es kann sein, dass ein Soldat Gewalt anwenden muss, um Frieden zu stiften, womit eine unbezweifelbare Tragik verbunden ist. Das bringt auch der Einsatz von potentiell tödlichen Defensivwaffen mit sich, weshalb sich im Rahmen ihrer Verwendung ebenfalls immer die Verhältnismäßigkeitsfrage stellt. Oberstes Ziel muss es immer sein, Frieden zu stiften und den Krieg zu beenden – mit möglichst wenig Waffengewalt. Viele Menschen in der Ukraine machen von ihrem legitimen Recht auf Selbstverteidigung Gebrauch, schließen sich den Streitkräften an und kämpfen für den Erhalt ihrer Freiheit gegen militärisch überlegene Kräfte der Russischen Föderation. Sie wollten und wollen keinen Krieg, sondern sehnen sich nach dem Frieden, der ihnen genommen worden ist.

In welchem Maß darf man denn mit Gewalt auf Gewalt antworten? In den Evangelien steht: Halte die andere Backe hin …

Die Antwort muss verhältnismäßig sein und sich immer dem Ziel verpflichtet sehen, Frieden zu stiften. In der ethischen Bewertung müssen wir aber darauf achten, die Ebenen klar zu trennen, denn mit Blick auf das Selbstverteidigungsrecht der Ukraine verhandeln wir Fragen, die eher der politischen Ethik zuzuordnen sind. Es wäre falsch, aus der Bergpredigt im Falle eines Angriffskrieges für ein ganzes Land ein grundsätzliches Verteidigungsverbot abzuleiten. Auf dieser Ebene verbietet die Bibel Selbstverteidigung nicht, denn es geht doch im Kern um Optionen und Chancen, Feindschaft zu überwinden. Das kann – wenn es um die ethische Bestimmung der eigenen, individuellen Haltung geht – durch die Absage an jegliche Gewalt und das Hinhalten der anderen Wange geschehen. Aber diese Haltung muss das Ergebnis einer freien und individuellen Entscheidung vor Gott und dem eigenen Gewissen bleiben. So etwas kann und darf nicht politisch oder religiös verordnet werden.

Die Bergpredigt und das Jesaja-Wort von den Schwertern, die Pflugscharen werden, haben einen großen Einfluss auf die Friedensbewegung gehabt, wir Deutschen haben Militär und Rüstung lange sehr zurückhaltend bewertet. War das alles ein Irrweg?

Innerhalb der Friedensbewegung gab und gibt es ein sehr breites Meinungsspektrum. Ich würde auch nicht von einem Irrweg reden, denn das Ziel einer Welt ohne Krieg und Massenvernichtungswaffen ist doch in höchstem Maße erstrebenswert. Mit dem Ende des kalten Krieges sah es zunächst danach aus, als wären wir diesem Ziel einen Schritt näher gekommen – zumindest mit Blick auf die Gefahr eines Krieges, der Europa und die ganze Welt erneut ins Verderben stürzen könnte. Heute wissen wir leider – diese Gefahr ist nicht aus der Welt geschafft.

Aus der Ukraine kommen verzweifelte Rufe, der Westen möge zum Schutz von Zivilsten eine Flugverbotszone durchsetzen so wie früher in Bosnien oder im Kosovo. Unsere Soldatinnen und Soldaten dürfen hier nicht helfen. Was löst das bei ihnen aus?

Das ist eine schreckliche Dilemmasituation. Soldatinnen und Soldaten der Bundeswehr müssen zusehen, wie Krankenhäuser und Geburtsstationen bombardiert werden. Sie wissen aber, dass ein Eingreifen ihrerseits zu einer Eskalation führen könnte, deren Folgen für die Menschheit unbeschreiblich wären.

Und halten Sie es bei Abwägung aller Folgen für richtig, dass die Nato diesen Wunsch nach einer Flugverbotszone ablehnt?

Ja, auch wenn diese Entscheidung nicht leicht fällt. Es bleibt eine furchtbare Dilemmasituation.

Hätten wir wenigstens früher und mehr Waffen liefern müssen?

Fakt ist, dass sie nicht früher geliefert worden sind. Angesichts eines Angriffskrieges, den ich auf das Schärfste verurteile, teile ich voll und ganz die Haltung unserer Deutschen Bischofskonferenz zu dieser Frage: Rüstungslieferungen an die Ukraine, die dazu dienen, dass das angegriffene Land sein völkerrechtlich verbrieftes und auch von der kirchlichen Friedensethik bejahtes Recht auf Selbstverteidigung wahrnehmen kann, halte ich grundsätzlich für legitim.

Ich habe das Gefühl, wir werden schuldig, egal was wir machen. Wir riskieren also entweder eine Ausweitung des Konflikts oder lassen Zivilisten schutzlos. Wir liefern Waffen, mit denen russische Soldaten getötet werden, wir verweigern andere Waffen, etwa großes Gerät, und schränken damit die Möglichkeiten der Ukrainer ein, sich gegen einen Aggressor zu verteidigen. Oder geht so eine Diagnose zu weit?

Ich kann Ihre Diagnose sehr gut nachvollziehen. Sie beschreiben damit in Ihren Worten genau die moralische Dilemmasituation, die ich oben angesprochen habe. Egal, wie man es gerade verantwortungsethisch abwägt: Wir können Leid und Tod nicht komplett verhindern – aber die Maxime muss sein, beides möglichst schnell zu beenden.

Zum Schutzversprechen der Nato gehört es auch, notfalls auf einen Atomschlag auch mit Atomwaffen zu reagieren. Auch Bundeswehrpiloten könnten dann in die Lage kommen, mit ihren Kampfflugzeugen so eine Bombe ins Ziel zu bringen. Das war lange Theorie, jetzt drohen russische Politiker offen mit einer nuklearen Eskalation. Was bewirkt das, was können Sie und Ihre Seelsorger den betroffenen Soldaten sagen?

Dass die politischen und militärischen Verantwortungsträger in der Nato alles in ihrer Macht Stehende tun, um das, was undenkbar ist, zu verhindern.

Darf man so eine Drohung überhaupt aussprechen? Jeder Atomwaffeneinsatz wäre doch ein Kriegsverbrechen. Müssten wir nicht, koste was es wolle, die Bomben aus der Eifel wegschaffen?

Deutschland ist Teil eines Verteidigungsbündnisses von Ländern, die im Falle eines Angriffs füreinander einstehen. Dieses Verteidigungsbündnis verfügt über Atomwaffen, die einen strategischen Abschreckungswert haben. Natürlich muss unser langfristiges Ziel eine friedliche Welt ohne Atomwaffen sein. Das ist selbstverständlich! Aber diese müssen wir gemeinsam mit unseren Partnern anstreben.

Zu den längerfristigen Folgen wird eine massive Aufrüstung auch in Deutschland gehören. Lange war sogar das Zwei-Prozent-Ziel der Nato umstritten – und jetzt? Dürfen wir trotz des Hungers in der Welt, trotz großer sozialer Probleme im Inland 100 Milliarden in die Bundeswehr stecken?

Wir sehen uns sicherheitspolitisch mit einer völlig veränderten Situation konfrontiert, der es in mehrfacher Hinsicht Rechnung zu tragen gilt. Dazu gehört auch, die Soldatinnen und Soldaten der Deutschen Bundeswehr für ihren verantwortungsvollen Dienst bestmöglich auszustatten. Die europäische Friedensordnung war und ist ein großes Geschenk für uns alle. Sie wird allerdings durch den Angriff auf die Ukraine einseitig massiv infrage gestellt. In diesem Kontext – klar eingebunden in bestehende Bündnisse – erfolgt die Aufstockung des Wehretats. Deutschland reagiert gemeinsam mit seinen Bündnispartnern auf eine neue Bedrohungssituation, denn es ist nicht hinnehmbar, dass die gemeinsam vereinbarten Prinzipien der Charta der Vereinten Nationen und der Charta von Paris mit Füßen getreten werden. Ich würde diese Ausgaben hier auch nicht kontrastieren, sondern in einen größeren Zusammenhang stellen: Hunger ist oft das Ergebnis von Kriegen. Frieden und Freiheit bildet die Grundlage für stabilen sozialen Zusammenhalt und für eine nachhaltige Entwicklungspolitik.

An hohen orthodoxen Feiertagen zeigt sich Wladimir Putin gern im Gottesdienst, auch zusammen mit dem Patriarchen von Moskau. Wenn ihm das christliche Image so wichtig ist – wäre er hier zu packen, könnten die Kirchen etwas gegen den Krieg tun?

Sie sagen es schon selbst – es geht ihm um ein christliches Image. Wäre er von der christlichen Botschaft überzeugt, würde er keinen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg führen. Aus meiner Sicht nutzt er Religion hier für seine politischen Zwecke. Schlussendlich kann ich bei ihm nur ein Zerrbild davon erkennen, was für mich das Christentum in seinem Kern ausmacht.

Bei dieser Nähe des Moskauer Patriarchats zum Putin-Regime – sollten wir Hoffnungen auf eine ökumenische Zusammenarbeit nicht abschreiben? Nehmen wir da nicht zu viel Rücksicht?

Wir sehen, welche Folgen es hat, wenn Kirche ihre prophetisch-kritische Distanz zum Staat verliert und sich ideologisch verstrickt. Religiöse Argumente werden genutzt, um ein autoritäres und repressives politisches System zu stützen. Diesem destruktiven Potential, das man im 21. Jahrhundert lange eher in anderen Religiösen zu sehen bereit war, müssen wir trotz aller Schwierigkeiten in ökumenischer Verbundenheit begegnen.

Zum Thema Rücksichtnahme: Papst Franziskus hat den Ukraine-Krieg mehrfach beklagt, aber er vermeidet es, Russland als Aggressor beim Namen zu nennen. Müsste er, müsste die katholische Kirche insgesamt nicht viel lauter werden? Wie halten Sie selbst es?

 „Angesichts der Barbarei der Tötung von Kindern, unschuldigen Menschen und wehrlosen Zivilisten gibt es keine stichhaltigen strategischen Gründe: Das Einzige, was getan werden muss, ist, der inakzeptablen bewaffneten Aggression ein Ende zu setzen, bevor sie Städte in Friedhöfe verwandelt. […] Im Namen Gottes bitte ich Euch: Stoppt dieses Massaker!“ Ich finde Papst Franziskus hier sehr klar und unmissverständlich. Wie ich selbst es halte, habe ich hier in meinen Antworten mehrfach deutlich gemacht. Eine Differenzierung ist mir dabei wichtig: Die politischen Verantwortungsträger in Russland sind die Aggressoren, nicht das russische Volk.   

Eine verrückte Idee: Wie wäre es, wenn der Papst nach Kiew ginge? Wenn er sagen würde, ich bin bei diesen Menschen hier, wer sie misshandelt und tötet, der tut das auch mir an?

Der von Papst Franziskus in die Ukraine entsandte Kardinal Konrad Krajewski befindet sich gerade auf der Rückreise. Kardinal Michael Czerny wird sich auf Bitten des Papstes jetzt ein zweites Mal in die Ukraine begeben. Das sind wichtige und eindeutige Zeichen.