Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde vor 80 Jahren im Rheinland die CDU gegründet. Über die Startphase, die damals verabschiedeten „Kölner Leitsätze“ und die Entwicklung der Partei spricht der langjährige Bundes-Sozialpolitiker Uwe Schummer im „Rundschau“-Interview.
Uwe Schummer„Kölner Leitsätze sind nach wie vor wesentlicher Bestandteil der Programmatik der Union“

Sozialpolitiker Uwe Schummer (CDU)
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Wie ist es, vor dem historischen Schild in der Kölner Innenstadt zu stehen, wo vor 80 Jahren die Wurzeln für die CDU gelegt wurden?
Für einen in der Wolle gefärbten Christdemokraten wie mich ist das ein sehr starkes Gefühl - gerade auch das Datum zu lesen: Am 17. Juni 1945, wenige Wochen nachdem die Barbarei der völkisch Braunen auch militärisch besiegt wurde, wurden hier im Rheinland christlich-soziale, also evangelische und katholische Christen aktiv.
Sie haben mit der Union eine neue Partei gegründet, die von ihrer politischen Spannweite her im Grunde einzigartig war und einzigartig bleiben sollte. Diese Spannweite ist ein ganz wichtiges Element, das die Union stark gemacht hat. Und die ist hier in Köln geboren worden.
Der Kölner Impuls mit seinen Leitsätzen war also prägend für die Gründungsjahre der Union?
Diese Prägung hat sich in der Union immer gezeigt. Die Spannbreite war dabei auch ein Spannungsfeld. Das reichte eben von den sehr Konservativen um Alfred Dregger bis zum „Herz Jesu“-Lager mit Vertretern wie Norbert Blüm oder Heiner Geißler.
Es hat die Debattenkultur innerhalb der Union immer ausgezeichnet, dass wir mit unterschiedlichen Positionen einen kultivierten Austausch miteinander pflegen. Es ging und geht stets darum, nicht auf Konfliktideologie zu setzen, auf das Brückenbauen.
Das war so nicht unbedingt zu erwarten, schließlich gab es mit dem wiedergegründeten Zentrum noch eine andere christliche Partei?
Bei der CDU-Gründung im Kölner Kolpinghaus sammelte Johannes Albers, der aus der Inhaftierung durch die Nazis befreit wurde, das „christliche Werkvolk“ und leistete konkrete Hilfen für ausgebombte Familien und Kriegsrückkehrer. Hans Katzer vertrat seinen Vater und berichtete: „Als wir samstagabends bis halb 11 Uhr diskutierten, meinte Pater Welty von den Dominikanern: Was macht ihr lauter Papiere? Nehmt die zehn Gebote und klebt sie an die Trümmer in Köln. Mehr brauchen wir nicht.“
Beim ersten Treffen in Köln durften noch keine Evangelischen teilnehmen, später wurde das in der CDU selbstverständlich?
Ja, wir haben die Ökumene in der Union schon praktiziert, bevor die Ökumene in der Kirche salonfähig war. Und das war auch eine Folge der christlichen Gewerkschaften in der Weimarer Zeit, da waren ja auch katholische und evangelische Christen zusammen.
Das hat dem rheinischen Kapitalismus, dieser Laissez-Faire-Haltung der Bonner Republik, sehr gutgetan, indem auf diese Weise ein Miteinander und ein Austausch über die Union in die Politik transportiert wurde.
Das konnte wahrscheinlich auch nur im Rheinland so passieren?
Richtig – man sieht ja auch, dass durch den Umzug nach Berlin die politische Welt größer geworden ist und leider auch die Konflikte stärker geworden sind. Wenn man hier in Bonn, im Rheinland oder in Köln eine große Demonstration hat, dann hat man ein Happening. Wenn man eine große Demonstration in Berlin hat, dann hat man Chaos, Schlägerei und Trümmer. Es ist alles etwas militanter und härter. Mehr Bonner Republik würde Berlin guttun.
In den „Kölner Leitsätzen“ war sogar die Rede von einem „christlichen Sozialismus“?
Ja, aber der hatte nichts gemein hat mit falschen kollektivistischen Zielsetzungen. Der nationalsozialistischen Ideologie des Hasses sollte die Idee der „sozialen Liebe“ entgegengestellt werden. Es ging den Gründungsmenschen der CDU darum, die Menschen nicht als Gegner, sondern im familiären Miteinander des Glaubens zu sehen.
So proklamiert der Gründungsaufruf, ähnlich wie im späteren Grundgesetz, an erster Stelle: „Die geistige Würde des Menschen wird anerkannt“, danach folgt die „Gerechtigkeit ist das Fundament des Staates.“ Die Soziale Marktwirtschaft ist die Versöhnung des Sozialstaatsgebotes der Katholischen Soziallehre mit den ordo-liberalen Ideen der Bekennenden Kirche.
Mit dem Ahlener Programm der CDU im Jahr 1947 verabschiedete sich die Partei dann aber vom Begriff des Sozialismus?
Die „Kölner Leitsätze“ sind nach wie vor wesentlicher Bestandteil der Programmatik in der Union. Sie sind die Urformel der Sammlung von 1945. Wer geschichtslos ist, wird auch gesichtslos. Die Programmatik hat sich nach den politischen Prozessen weiterentwickelt. Neue Grundlagen wurden mit dem „Ahlener Programm“ die Mitbestimmung in der Wirtschaft, die Teilhabe an den demokratischen Prozessen und das machtverteilende Prinzip. Wirtschaftliche Macht, so die Erkenntnis aus dem Scheitern von Weimar, bleibt niemals im Stande der Unschuld. Sie wird zu politischer Macht. Das Kartell der Milliardäre um den autoritär agierenden US-Präsidenten Donald Trump zeigt, wie aktuell die Mahnung immer noch ist.
Die CDU war und ist christlich geprägt. Heute fühlt sich auch eine Muslimin wie die Kölner Politikerin Serap Güler wohl in der Union?
Christliche Werte gelten ja nicht nur für Christen. Die Rundschreiben des Vatikans richten sich auch immer an alle Menschen guten Willens. In Köln, aber auch in anderen Regionen wie in meiner Heimatstadt Willich am Niederrhein wird häufig das sogenannte Abrahamsfest gefeiert. Die evangelische und die katholische Gemeinde, die jüdische Gemeinde und die muslimische Gemeinde erinnern dabei an ihre gemeinsamen Wurzeln.
Selbst die, die nicht religiös orientiert sind, können die Grundwerte teilen, die in unserer Verfassung verankert wurden: In Verantwortung vor Gott und den Menschen dem Frieden der Welt zu dienen. Gott schaut nicht auf die Riten, der schaut in die Herzen, wie ernst es die Menschen auch mit der Menschlichkeit meinen.
Ist dieses sozial gedachte Christliche denn in der heutigen CDU noch stark genug?
Nein, die Stimme, die in den „Kölner Leitsätzen“ konstituierend für die Partei war, ist derzeit zu leise. Ich hoffe, dass die Union nicht den Fehler macht, im Deutschen Bundestag das Soziale allein den Sozialdemokraten zu überlassen, während wir uns auf das Wirtschaftliche und Konservative konzentrieren. Zu den Mitautoren der Leitsätze gehörte Hans Katzer aus Köln, der später Arbeitsminister war. Er sagte immer: Das Soziale und das Wirtschaftliche müssen zusammengedacht werden. Und heute würde ich noch anfügen: Auch das Ökologische. Diese Brückenfunktion, das Soziale, Ökologische und Ökonomische zusammenzuführen, war immer die Stärke der Union. Wenn das Soziale amputiert würde, wäre die Union in einem 30-Prozent-Turm eingesperrt. Wenn wir wieder starke Mehrheiten um die 40 Prozent erreichen wollen, was unter Angela Merkel noch möglich war, dann muss auch das Christlich-Soziale wieder stärker thematisiert werden - und zwar glaubwürdig auch mit Persönlichkeiten.
In den Leitsätzen wird nach den Erfahrungen von Weimar explizit vor einem Missbrauch der Demokratie gewarnt?
Deshalb scheint mir die Antwort auf die Frage nach dem Umgang mit einer gesichert rechtsextremen Partei 80 Jahre später in deutschen Parlamenten klar: Die Demokratie kann sich nur wehren, solange sie noch Demokratie ist und die Gewaltenteilung funktioniert. Die Bund-Länder-Kommission sollte deshalb mit Informationen des Verfassungsschutzes ein Verbotsverfahren für die AfD prüfen. Christdemokraten dürfen nicht wackeln und Optionen offenhalten. Völkisch-Braun hat größtes Unglück über Deutschland und die Welt gebracht. Wer mit ihnen anbandelt, der zerstört die Seele der Union. Ich freue mich, dass NRW-Ministerpräsident Hendrik Wüst in dieser Frage glasklar ist.
Geboren 1957 in Adelaide (Australien), siedelte er nach Willich am Niederrhein über. Der Kaufmann für Groß- und Außenhandel arbeitete zunächst als Jugendreferent der Katholischen Arbeitnehmerbewegung in Köln, leitete das Bundestagsbüro von Norbert Blüm und gehörte von 2002 bis 2021 dem Deutschen Bundestag an, zuletzt als Vorsitzender der CDU/CSU-Arbeitnehmergruppe.