Opfert der Kremlchef die Krim?„Verbrannte Erde“ – Staudamm-Sprengung spricht für neue Strategie bei Putin

Lesezeit 7 Minuten
Enorme Wassermassen drängen durch die zerstörte Staumauer des Kachowka-Wasserkraftwerks nahe der ukrainischen Großstadt Cherson.

Enorme Wassermassen drängen durch die zerstörte Staumauer des Kachowka-Wasserkraftwerks nahe der ukrainischen Großstadt Cherson.

Nach der Zerstörung des Kachowka-Staudamms ist vieles noch unklar. Experten sehen einen Strategiewechsel im Kreml. Die wichtigsten Antworten.

Mit der Sprengung des Kachowka-Staudamms unweit der ukrainischen Großstadt Cherson hat der Angriffskrieg Russlands laut Bundeskanzler Olaf Scholz eine „neue Dimension“ erreicht. Am Tag nach der Katastrophe (6. Juni) zeigt sich ein katastrophales Bild. Die wichtigsten Fragen zur Zerstörung des Staudamms – und die Antworten, die bisher möglich sind.

Wer steckt hinter der Zerstörung des Kachowka-Damms? 

Die Ukraine beschuldigt Russland für die Sprengung des Damms verantwortlich zu sein. Moskau behauptet wiederum, die Ukraine sei verantwortlich. Die russische Version gilt bei westlichen Regierungen und Beobachtern jedoch als wenig plausibel – und wird von Experten als Propaganda betrachtet.

„Der verbrecherische Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine“, sei für die Katastrophe verantwortlich, teilte Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag mit. Auch Kanzler Scholz erklärte gegenüber RTL, er gehe von einer russischen Täterschaft aus, ein endgültiges Urteil sei allerdings noch nicht möglich.

Zwei US-Beamte erklärten gegenüber dem Sender NBC derweil, amerikanische Geheimdienstinformationen würden auf Russland als Täter hindeuten. Noch könne man jedoch „nicht abschließend“ sagen, wer für den Dammbruch verantwortlich sei, hieß es aus dem Weißen Haus. Ein Nato-Beamter nannte die Sprengung gegenüber NBC derweil einen „ungeheuerlichen Angriff“, von dem Russland profitiere. Für eine abschließende Bewertung sei es jedoch noch zu früh.

Der Politikwissenschaftler Carlo Masala sieht unterdessen keine rationalen Gründe, die eine Sprengung durch die Ukraine plausibel erscheinen lassen. „Die russische Propaganda wird das Netz mit Zweifeln fluten“, warnte Masala am Dienstag. Gegenüber „T-Online“ erklärte der Militärexperte: „Alles spricht dafür, dass die Russen den Damm gesprengt haben.“ Auch der Politikwissenschaftler Christian Mölling vermutet Moskau hinter der Sprengung. „Wenn es die Ukrainer gewesen wären, würde das die Unterstützung durch den Westen gefährden. Das wäre kontraproduktiv“, sagte der Militärexperte von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) den Zeitungen der Funke-Mediengruppe.

Kochowka-Stausee: Warum könnte Russland den Damm gesprengt haben? 

Nicht nur Kanzler Olaf Scholz sieht mit der Sprengung des Kachowka-Staudamms eine „neue Dimension“ erreicht, auch internationale Beobachter teilen diese Einschätzung. Seinen ursprünglichen Plan, die Ukraine zu erobern, habe Kremlchef Wladimir Putin offenbar aufgegeben, analysierte der Osteuropa-Experte Anders Aslund. „Die Sprengung des wichtigen Kachowka-Staudamms ist der Beginn einer allgemeinen Zerstörung der Ukraine“, schrieb der Schwede auf Twitter. Auch Politikwissenschaftler Masala vermutet einen Strategiewechsel in Moskau hinter der Sprengung. Früher habe man die Taktik „Verbrannte Erde“ genannt. „Da Russland die Ukraine nicht erobern kann, ist die Strategie jetzt, sie vollumfänglich zu zerstören“, erklärte der Militärexperte beim Kurznachrichtendienst.

Kurzfristig diene die Sprengung des Damms Experten zufolge jedoch vor allem dazu, die bevorstehende ukrainische Gegenoffensive im Süden des Landes auszubremsen. Eine Überquerung des Dnipro rund um Cherson erscheint in nächster Zeit unmöglich, durch die Flut verwandelt sich das Gebiet zunächst in ein unpassierbares Sumpfgebiet. „Die Russen wollen die ukrainische Gegenoffensive durcheinanderbringen, die an einigen Stellen zu wirken beginnt“, erklärte Militärexperte Mölling. Auch Masala erklärte gegenüber T„-Online“, die ukrainische Gegenoffensive solle mit der Sprengung behindert werden.

Zerstörung des Kachowka-Staudamms: Gibt es noch andere Theorien?

Ja. In der ukrainischen Militärblogger-Szene wird diskutiert, dass es sich bei dem Ausmaß der Explosion am Kachowka-Staudamm um Inkompetenz auf russischer Seite gehandelt haben könnte. Die Theorie stützt sich auf die ersten Berichte von russischer Seite noch in der Nacht. Dort war demnach zunächst von einer kleineren „Explosion“ die Rede, nicht jedoch wie später von einem ukrainischen Raketenangriff. Noch am Morgen berichtete der vom Kreml für das Gebiet eingesetzte Gouverneur Vladimir Saldo in einem Video zudem, es sei alles in bester Ordnung, die Menschen würden „ruhig über die Straßen spazieren“, obwohl im Hintergrund bereits die enorme Überflutung des Ortes Nova Kachowka deutlich sichtbar war.

Erst im Laufe des Morgens, als das Ausmaß des Dammbruchs klar geworden war, behaupteten die Russen, ein ukrainischer Raketenangriff sei der Grund für die Katastrophe, von einer „Explosion“ war plötzlich nicht mehr die Rede. Daher mutmaßen einige Militärblogger, dass die Russen den Damm lediglich beschädigen wollten, um eine Überquerung des Dnipro für ukrainische Truppen zu erschweren, ihn dann jedoch versehentlich komplett zerstörten – zunächst ohne es zu bemerken. Belege für diese Theorie gibt es abseits des nachweislichen Kommunikationschaos auf russischer Seite bisher jedoch keine.

Neben dieser Theorie kann aber auch natürlicher Verfall als Ursache für den Dammbruch nicht ausgeschlossen werden. Wie der US-Sender CNN berichtet, zeigen Satellitenbilder, dass bereits vor einigen Tagen ein kleiner Teil einer Straße an den Schleusen des Staudamms weggebrochen war. Laut dem ukrainischen Betreiber des Kraftwerks, Ukrhidroenerho, sei das Kraftwerk am Dienstag jedoch „durch die Explosion des Maschinenraums von innen her vollständig zerstört“ worden.

Kommt die Zerstörung des Staudamms ohne Vorwarnung?

Nein. Bereits im Herbst 2022 hatte der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj davor gewarnt, dass Russland den Staudamm in der Nähe von Cherson sprengen könnte. Selenskyjs damaligen Angaben zufolge hatten russische Truppen, nachdem sie die Kontrolle über die Staumauer und das Wasserkraftwerk erlangt hatten, Sprengsätze innerhalb des Bauwerks platziert. Diese könnten nun zum Einsatz gekommen sein.

Dient die Flut als „Verbrannte Erde“-Taktik? 

Ja. Die Folgen der Sprengung dürften nicht nur für die Menschen und die Umwelt in der Südukraine, sondern auch für die gesamte Wirtschaft des Landes verheerend ausfallen. Im Fachmagazin „Osteuropa“ beschreiben die beiden ukrainischen Wissenschaftler Ihor Pylypenko und Daria Malchykova die Zerstörung der Staumauer bei vollem Füllstand des Sees als „katastrophal“. Berichten zufolge hatte der Stausee unter russischer Kontrolle zuletzt einen Rekordfüllstand erreicht.

Durch die Sprengung könnten nun drei Kraftwerke, die für 30 Prozent der ukrainischen Stromproduktion verantwortlich seien, nicht mehr betrieben werden. Zudem sei die Trinkwasserversorgung von rund 400.000 Menschen „zerstört“, erklärten Pylypenko und Malchykova. Auch die Bewässerung für landwirtschaftliche Betriebe in der Region könne „nicht fortgeführt“ werden, schreiben die Wissenschaftler. Felder könnten zu „Wüsten“ werden, warnte das ukrainische Agrarministerium. Noch am Dienstag stiegen die Weizenpreise an internationalen Börsen.

280.000 bis 420.000 Menschen drohen der Prognose der Wissenschaftler zufolge mit der Überflutung des Gebiets ihre Existenzgrundlage zu verlieren. Auch die Schäden für Flora und Fauna werden von Experten als verheerend beschrieben. Ersten Berichten zufolge sind mehrere Tonnen Rohöl bei der Flut in die Gewässer gelangt.

Was bedeutet die Zerstörung des Kachowka-Staudamms für die Krim?

Die Krim wird vom Kachowka-Stausee mit Wasser versorgt. Bereits am Dienstag berichteten Beobachter, dass der Krim-Kanal seine Flussrichtung geändert habe – und nun in Richtung des leerlaufenden Stausees zurückfließe. Die Krim wäre damit innerhalb absehbarer Zeit einem erheblichen Wassermangel ausgesetzt.

Die ukrainischen Wissenschaftler Pylypenko und Malchykova rechnen in ihrer Prognose mit einem „Wassernotstand“ auf der Halbinsel, wie es ihn bereits zwischen 2014 und 2022 gegeben habe. Militär- und Osteuropaexperten deuten die Konsequenzen für die Krim als weiteres Indiz für einen Strategiewechsel des Kremls, bei dem für die maximale Zerstörung der Ukraine auch die Krim geopfert werden könnte.

Ist das AKW Saporischschja jetzt in Gefahr?

Das größte AKW Europas in Saporischschja, nördlich der Staumauer gelegen, nutzt das Wasser des nun abfließenden Stausees als Kühlmittel für seine Reaktoren. Eine unmittelbare Gefahr droht jedoch nicht. Zwar sinkt der Wasserstand des Sees in der Umgebung des AKWs ersten Berichten zufolge sichtbar, noch verfüge das Kraftwerk jedoch über genügend Kühlwasser in einem extra dafür angelegten Reservoir.

„Das Kühlreservoir ist vollständig gefüllt, der Wasserstand beträgt 16,6 Meter – genug, um den Bedarf des Kraftwerks zu decken“, teilte der Betreiber Energoatom am Dienstag mit. Auch die Internationale Atomenergiebehörde (IAEA) erklärte, es bestehe kein „unmittelbares Risiko für die nukleare Sicherheit“.

Die sechs Reaktoren des AKWs sind bereits im letzten Jahr heruntergefahren worden – sie benötigen daher nur wenig Kühlung. Allerdings befindet sich auch das Atomkraftwerk in der Hand russischer Truppen. Berichte über von Russland deponierte Sprengsätze hat es bereits gegeben.

Rundschau abonnieren